Wittekindsweg – Ein Bericht über eine Fatest Known Time (FKT) 2020

Vor dem Start

Ich schließe eine Autotür von innen und es ist zwischen 5 und 6 Uhr morgens am 19.07.2020. Ich sitze auf einer Rückbank. Vor mir sitzt William am Lenkrad und fährt in Richtung Osnabrück. Auf dem Beifahrersitz sitzt Sara und neben mir ihr Vater, Sven. Eigentlich ist Sven daran ein stückweit Schuld, dass wir hier zusammen sitzen. Wie es dazu kam? Das berichte ich später. Mir ist eines sehr wichtig direkt zu sagen: Ohne diese drei Menschen wäre dieser Tag wahrscheinlich so in der Form nicht möglich gewesen. Vielen Dank an Euch für Euren Einsatz, Eure Zeit und Geduld. Euer Einsatz ist unbezahlbar gewesen.

Wir fahren nach Osnabrück. Mein Ziel ist es heute den gesamten Wittekindsweg bis nach Porta Westfalica zu laufen. Dieser Wanderweg ist 95,8 km lang und teils sehr hügelig mit gut 2500 Höhenmeter. Der Start ist in Osnabrück am Rathaus und das Ziel ist in Porta Westfalica unterhalb des Kaiser-Wilhelm-Denkmals. Ich möchte diesen Wanderweg nicht nur laufen. Ich möchte daraus ein FKT machen. Eine „Fastest-Known-Time“. Also im Grunde möchte ich einen Streckenrekord laufen. Daher habe ich diese Strecke auf der FKT Seite eingereicht (Der Link dazu ist am Ende des Berichtes.) und nachdem mein Vorschlag angenommen wurde, begannen die letzten Planungen.

Wir kommen gegen 6:30 Uhr in Osnabrück an, verlassen das Auto und gehen zu Fuß zum Rathaus, denn dort beginnt die Strecke des Wittekindsweges. Ich kenne die Strecke nicht und bin diese zuvor nicht vollständig gelaufen oder gewandert. Mein Navigationsgerät ist meine Laufuhr, die dank eines GPX-Tracks hoffentlich den Weg kennt.

Ich werde diesen Bericht in fünf Kapiteln aufteilen, die jeweils sich an den offiziellen fünf Wanderetappen orientieren. (Vergleiche: https://www.wanderkompass.de/Deutschland/Wittekindsweg.html)

Etappe 1 – Kilometer 0 bis 17,4

Es ist ca. 6:48 Uhr als ich auf den Startknopf meiner Uhr drücke. Es ist eine seltsame Startuhrzeit und ein seltsames Gefühl sich selbst den Startschuss zu geben. Es ist ein noch seltsameres Gefühl drei Menschen hinter sich zu lassen, die extra mich hier hingebracht haben und mich nun den ganzen Tag begleiten werden. Ich laufe los, motiviert, wach und unsicher, da ich den Weg nicht kenne. Ich hoffe, dass die Technik mitspielt, ansonsten bleiben mir nur die offiziellen Markierungen.

Ich habe ansonsten diesen Lauf akribisch geplant. Es gibt fest von mir zwölf geplante Verpflegungs- und Treffpunkte mit Sara, William und Sven. Der erste sollte nach gut 11,1 km kommen. Meine Idee war, erst einmal Osnabrück hinter mir zu lassen. Es ist noch angenehm kühl am morgen und doch soll es schwül und warm werden. Das ist ein Wetter, mit dem ich gar nicht so gut zurechtkomme.

Schon nach wenigen Schritten blicke zum ersten Mal auf meine Uhr. Der Weg führt mich zwischen Gebäuden entlang, wo ich mich direkt frage: „Bin ich hier richtig?“ Ich folge dem Weg, der mich über eine Brücke laufen und einen Bach folgen lässt. Es geht weiter durch eine Siedlung, einen Park, einen Friedhof, auf dem ich mich verlaufe. Wer markiert eine Wanderoute über einen Friedhof? Ich verstehe es nicht, vor allem kann ich meinen Weg nur korrigieren, dank des GPX-Tracks auf meiner Uhr. Ich habe wohl mindestens eine Markierung auf dem Friedhof nicht gesehen. Auf dem Friedhof laufe ich langsam und gehe fast, aus Respekt gegenüber dem Ort. Ich bin ein wenig fassungslos, dass die Route hier entlang führt. Als ich den Friedhof verlasse, laufe ich wieder an. Es wird grüner und ruhiger. Damit meine ich nicht die Hektik oder die Lautstärke einer Stadt. Es ist Sonntag und gerade mal 7 Uhr morgens, da ist auch eine große Stadt wie Osnabrück noch eher im Schlafzustand.

Ich meine, dass der Streckenverlauf ruhiger wird. Es gibt weniger Kurven und Kreuzungen. Ich kann mich eher auf das Laufen konzentrieren und muss nicht so sehr auf den Verlauf der Strecke achten. Ich besinne mich das erste Mal nach gut 3 Kilometern auf das Laufen. Hier und da sehe ich ein Hund mit seinem Herrchen oder Frauchen, doch ich bin weitestgehend alleine. Außer Hundebesitzer*innen sehe ich nur sehr selten mal ein Auto. Mit jedem Kilometer habe ich das Gefühl die Stadt immer mehr zu verlassen und damit beginnt mehr und mehr mein Abenteuer. Für mich nimmt die Stadt immer das Gefühl von einem Laufabenteuer. Jetzt bin ich in der Natur und habe noch weit über 90 Kilometer vor mir. Eine eigentlich für mich unvorstellbare Distanz. Daher besinne ich mich gedanklich nur auf die Strecke bis zum ersten Verpflegungspunkt nach gut 11 Kilometern.

Ich verlaufe mich aus Unaufmerksamkeit noch zwei weitere Male, bevor ich die Stadt Osnabrück hinter mir lasse. Es geht an Feldern und Wäldern entlang und am Bach/Fluss ‚Nette‘ entlang. Ich sehe Bauernhöfe, an denen ich vorbeilaufe und höre Kirchenglocken die läuten. Die Strecke wandelt sich fast jeden Kilometer vollständig. Kaum sehe ich Felder, folgt ein Waldabschnitt, ein Landstraßenabschnitt und wieder ein Waldabschnitt. Es ist phasenweise richtig idyllisch, was ich gar nicht für diesen ersten Abschnitt erwartet habe.

Nach gut 9 km passiere ich eine Wassermühle und ein Café. Dort treffe ich auf einen älteren Herrn, der ohne Begleitung ein wenig sich bewegt. Er spricht mich an, ich drehe mich um und laufe langsam rückwärts. Wir kommen kurz ins Gespräch, als ich seine erste Frage beantworte, dass ich auf dem Wittekindsweg unterwegs sei. Er erzählt mir, dass er schon dreimal die gesamte Route innerhalb von jeweils drei Tagen gewandert sei. Er fragt mich, wie viel ich heute denn schaffen möchte. Ich berichte ihm, dass ich sie nun vollständig am Stück laufe und wahrscheinlich einem halben Tag benötige. Ich habe das Gefühl, dass er mir nicht glaubt. Wir verabschieden uns und ich drehe mich wieder um und laufe in meinem alten Tempo weiter. Ich passiere eine „Kids-Bar“ und muss stehen bleiben. Ich finde das total witzig. Wäre diese Bar geöffnet, ich glaube ich hätte mir ein Getränk gekauft. Sowas ist witzig, toll und irgendwie bin ich traurig, dass dies kein Sonder-Verpflegungspunkt geworden ist.

Als ich die ersten 10 Kilometer absolviert habe, weiß ich, dass ich schon fast am Verpflegungspunkt bin und erfreue mich an dem Gedanken die Support-Crew gleich wiederzusehen. Ich weiß noch, wie ich Sven einst anrief und meinte: „Hey. Ich laufe einen FKT, also einen Streckenrekord auf einer bekannten Strecke. Wie sieht es aus? Glaubst du, dass Laufsport Andreas daran ein Interesse an einer solchen Aktion hat? Mein Ziel ist schließlich in Porta Westfalica und fast vor eurer Tür.“ Und er antwortete sinngemäß „Wenn, dann machen wir es richtig. Wir supporten dich als Crew vom Laufladen aus!“ Der Rest ist im Grunde Geschichte. Ich plante den Tagesverlauf und Sara, Sven und William beschlossen mich zu begleiten und früh morgens mich sogar nach Osnabrück zu fahren.

Als ich die Straße zum Verpflegungspunkt laufe, sehe ich die drei schon, wie sie auf mich warten und schon von der Ferne anfeuern. Ich freue mich und laufe in den aufgebauten Verpflegungspunkt. Ich verbleibe nur kurz und trinke und esse schnell etwas. Nach nicht einmal drei Minuten bin ich wieder auf dem Weg. Ich denke über den nächsten Abschnitt nach und merke, dass mir der Gedanke gefällt schon in wenigen Kilometern die erste offizielle Etappe von fünf abschließen zu können.

Die Strecke verläuft an der Ortschaft Rulle entlang. Dafür laufe ich auf einem Singletrailpfad entlang und zu meiner rechten Seite sehe ich jedoch direkt die Straße und Gebäude. Es geht in einen Wald und an Feldern vorbei. Zwischenzeitlich muss ich auch eine längere Zeit an einer Landstraße weiterlaufen. Es ist der wahrscheinlich der langweiligste Abschnitt des gesamten Tages. Dass wohl spannendste sind irgendwann im nirgendwo die frei laufenden Hühner die mich unbekümmert beobachten, wie ich an ihnen vorbeilaufen.

Die nächsten Kilometer sind zügig gemeistert, da die Strecke relativ leicht zu laufen ist. Ich komme zu einer Hütte, die ungefähr das Ende der ersten Etappe markiert. So wirklich sicher bin ich mir nicht, aber meine Uhr sagt mir, dass ich nun 17,4 km hinter mir liegen. Ich bleibe stehen und mache ein Foto von einer Hütte. Ich atme tief durch und blicke nach vorne. Gleich folgt eine Rechtskurve, die mich endlich in Richtung Osten führen wird und damit in Richtung des Ziels. Als ich weiterlaufe, horche ich in mich hinein. Ich fühle mich gut und so könnte es gerne weitergehen. Es ist mittlerweile 8:27 Uhr.

Ab der zweiten Etappe sollte es hügliger und somit das Streckenprofil anspruchsvoller werden. Diese erste Etappe war sicherlich die einfachste und kühlste Etappe. Die kühlste Etappe? Da es zudem noch sehr warm werden soll, mache ich mir auch dahingehend etwas Sorgen. Wärme / Hitze und meine Wenigkeit mögen sich nicht so sehr.

Etappe 2 – Kilometer 17,4 bis 36,1

Nach der Kurve komme ich an einzelnen Häusern vorbei. Ich sehe lebende Hühner und Vögel aus Blech. Es wirkt wie etwas Kunst im Wald. Ich bleibe kurz stehen und sehe es mir an, bevor ich weiter laufe. Der Abschnitt wird matschiger und jeder Schritt ist anstrengender als noch auf der ersten Etappe. Da es mehrere kleine Bodenwellen gibt, bekomme ich gerade keinen Laufrhythmus hin und laufe entweder leicht bergauf oder leicht bergab. Ich eile mich, um zum Verpflegungspunkt zwei zu kommen.

Während dessen im Versorgungspunkt 2 bei ca. 19,5 km. Sven, Sara und William berichten mir, dass sie sich ein Frühstück besorgt haben und wie ich später erfahren werde, wärmt William sich auf, um mich entspannt begleiten zu können. Ich erreiche den zweiten Verpflegungspunkt. Ich schnappe mir etwas zu trinken, etwas Essen und William und dann geht es auch schon weiter. Wir verlassen den zweiten Verpflegungspunkt gegen 8:45 Uhr und laufen los.

Sven und Sara packen direkt alle Sachen zusammen. Sie haben wohl nicht so viel Zeit bis zum nächsten Verpflegungspunkt.

Schon nach wenigen hundert Metern merke es direkt: Es ist angenehm nicht alleine zu sein. William und ich reden die gesamte Zeit. Daran merken wir beide, dass wir nicht am Limit laufen und im entspannten Bereich laufen. Der Abschnitt verläuft primär durch die Wälder. Ein Fuchs läuft vor uns Weg und einige Rehe kreuzen knapp unseren Weg. Immer wieder sehen wir Hütten, die zum Verweilen einladen.

Doch wir laufen weiter durch Wälder, vorbei an Steinen aus der Jungsteinzeit. Auf einem Stein ist ein interessantes Gesicht gemalt. William und ich bleiben kurz stehen, lesen die Informationstafel flüchtig und laufen danach weiter. Kultur und Bildung am frühen Morgen.

Als wir ein Naturfreundehaus passieren, ist mir klar, dass es kein Kilometer mehr bis zum nächsten Verpflegungspunkt ist. Die letzten Kilometer vergingen wie ein Fingerschnippen und ich bin froh, dass William und ich uns ein wenig unterhalten konnten. Am nächsten Verpflegungspunkt gibt es einen fliegenden Wechsel zwischen William und Sara.

Sie begleitet mich nun für die nächste Etappe. Wir laufen gemeinsam durch Feldwege und Waldwege. Danach verlaufen wir uns, weil mein GPX-Track uns ins Unterholz schicken möchte, wo sehr dichter Wald aber kein erkennbarer Weg ist. Es sieht danach aus, als wenn es hier einst einen Weg gegeben hat, der aber nun seit einigen Jahren nicht mehr existiert. Notiz an mich: Der GPX-Track scheint völlig veraltet zu sein. Wir laufen 200 m zurück und wählen einen anderen Weg und kommen nach nochmal 200 m wieder auf die Strecke. Das war ein kleiner Extra-Umweg. Kurz danach sehen wir zwei Figuren mit Mund-/Nasenmasken und Kleidung, die aus Holz gebaut sind. Ist das nun weitere Kunst im Wald?

Danach folgt ein Abschnitt, der wesentlich anstrengender ist, weil er viele Höhenmeter hat. Sara und ich reden zu dieser Phase nicht viel, da wir beide uns auf die Anstiege konzentrieren. Das positive ist doch, dass geteiltes Leid, halbes Leid sei. An diesem Gedanken halte ich fest.

Kurz vor dem Versorgungspunkt kommt ein sehr anspruchsvoller Berg, den wir beide in kleineren Abschnitten wandern. Als wir den vierten Verpflegungspunkt erreichen, liegt der knackige Berg hinter uns und ich habe 32,6 km bewältigt.

Ab nun nehmen die Straßenabschnitte deutlich ab und vor mir liegen fast nur noch Waldstrecken. Daher wechsle ich nun meine Straßen-Schuhe gegen Trail-Schuhe.

Ein Drittel der Strecke liegt nun hinter mehr. Ich bin allerdings auch schon 3,5 Stunden auf den Beinen. Ich verlasse den Verpflegungspunkt und bin wieder allein. Es geht vorwiegend erst einmal bergab. Hier laufe ich meinen schnellsten Kilometer des Tages. Ich laufe ein Stück die B65 entlang, danach muss ich einer Landstraße folgen, die kein Bürgersteig hat. Ich habe ein wenig Sorge an einer Landstraße zu laufen, wo die Autos ein hohes Tempo anschlagen und es kaum eine Schutzzone für mich gibt. Aber die offiziellen Markierungen sagen mir sehr klar: „Lauf hier lang!“ Und genau das mache ich. Ich mache innerlich drei Kreuze als ich endlich die Landstraße verlassen darf. Die zweite Etappe endete um 10:40 Uhr Mitten im Nichts. Wer bitte denkt sich diese komischen Etappengrenzen aus? Wo soll man hier denn übernachten? Ich meine an der B65 lief ich an einem Hotel vorbei.

Etappe 3 – Kilometer 36,1 bis 55,6

Im Grunde laufe ich ständig einen Schotterweg zwischen Felder und Wäldern entlang. Es geht gefühlt endlos gerade aus und es wird immer wärmer und es gibt keinen Schatten. Ich kann sagen, dass ich mein erstes kleines Tief erlebe, da die Sonne mich grillt.

Ich laufe hier Schritt für Schritt und bemühe mich stetig weiterzukommen. Aber ich muss immer wieder kurz gehen und quäle mich. Das ist gerade kein Spaß, keine Freude und kein Vergnügen. Natürlich gibt es schöne Momente, schöne Ausblicke in die Natur und diese erfreuen mich. Aber ich sage es ganz ehrlich. Ich hatte auf diesem Abschnitt keine Lust. Doch das ist es ja, was einen Ultraläufer zu einem Ultraläufer aus macht: Einfach weiterlaufen und über die Krise hinweg laufen. Ein Tief kann immer kommen und es kommt nicht immer alleine. Als ich den ersten Marathon beende, habe ich schon 4:35 Stunden auf der Uhr.

Mein Ziel in unter 11 Stunden zu bleiben scheint wie meine Motivation zu zerfließen und mir ist schon klar, dass ich es nicht mehr schaffen werde. Dennoch will ich das Ziel in Porta Westfalica erreichen, irgendwie. Notfalls krieche ich auf allen vieren ins Ziel. Sven, Sara und William sprechen mir gut zu und machen wir Mut. Es sind erneut gute 9 Kilometer zum nächsten Verpflegungspunkt. Als ich trinke und mich etwas setze, fällt mir auf, wie die Pausenzeiten deutlich länger werden. Das ist bei mir nie ein gutes Zeichen. Wir unterhalten uns und ich jammere und ich gehe mir schon selbst etwas auf den Sack. Es gibt eine WhatsApp Gruppe von Leuten, die mir folgen und live einige Updates bekommen. Ich bin zu diesem Zeitpunkt nicht bereit mir einzugestehen, dass es nicht rund läuft und schreibe daher nichts davon in diese Gruppe. Dann kommt ein Herr aus dem gegenüberliegenden Lokal und spricht uns darauf an, dass wir da keine Flagge (von Laufsport Andreas) hießen dürfen und doch besser gehen sollten. Dies sei ein Parkplatz für eine Gaststätte, die keine Fremdwerbung dulde. Sven springt sofort dem Mann entgegen und erklärt, dass wir gleich sowieso weg sind und die Flagge mir helfen soll, die Verpflegungspunkte zu finden. Ich nehme diesen Moment, als Anreiz aufzustehen und weiterzulaufen.

Ich sag es euch, der Streckenverlauf wird immer anspruchsvoller. Die Halbzeit des Tages überquere ich nach 5:15 Stunden. Ich bin mir aber sehr sicher, dass es ich nun deutlich mehr Zeit für die zweite Hälfte benötigen werde. Das liegt insbesondere an dem Streckenprofil, welches nun anspruchsvoller wird. Es ist vergleichbar mit der Brocken-Challenge, wo die erste Hälfe der 80 Kilometer eher leicht zu laufen ist und die zweite Hälfe hart wird. Aber das mag ich an dem Streckenverlauf von Osnabrück nach Porta Westfalica. In dieser Form ist die Strecke einfach etwas knackiger, weil der harte Teil zum Schluss kommt.

Es folgen mehrere kurze, steile Anstiege. Einen Abschnitt, wo ich mal wieder runterlaufen kann, gibt es erst einmal nicht. Immerhin sehe ich die ersten Menschen auf der Strecke, seit ich Osnabrück verlassen habe. Da ist ein Mountainbiker, der an einem Aussichtspunkt steht und in die Ferne blickt, oder ein Läufer, der mich freundlich grüßt.

Als es irgendwann wieder etwas bergab geht, freue ich mich darüber. Ich weiß, dass ich bald zu den Dinosaurierspuren kommen werde. Je näher ich diesem Highlight komme, umso mehr sehe ich vereinzelte Familien mit Kindern, die auf dem Weg dorthin sind. Ich passiere Informationsschilder und einen aufgebauten Dinosaurier. Für die Spuren aber hätte ich die Strecke verlassen müssen. Das werde ich an diesem Tag jedoch nicht machen. Meine Devise ist hier klar: Ich laufe keine zusätzlichen Meter.

Nach dem aufgebauten Dinosaurier sind es nur noch wenige hunderte Meter, bis zum Versorgungspunkt. Als ich diesen erreiche, sind 52 km absolviert. Ich begrüße das Support-Team mit den Worten „Willkommen im Ultrabereich. Jetzt geht es erst richtig los.“ Wir unterhalten uns kurz. Ich setze mich, trinke und esse. Es ist mittlerweile sehr warm geworden und die Wärme macht mir zu schaffen. Sven reicht mir die Streckenplanung und ich studiere den Höhenverlauf, sowie besondere Punkte, auf die ich achten muss. Sven sagt mir, dass ich jetzt ungefähr 20 Minuten hinter dem Zeitplan bin, um 11 Stunden zu erreichen.

Ich verlasse nach der Pause zum ersten Mal den Verpflegungspunkt nicht laufend, sondern gehend. Es geht direkt ordentlich einen Berg hinauf und ich möchte mich etwas schonen und meinem Magen etwas Zeit zum Verdauen geben. Zum letzten Mal liegen nun 9 Kilometer zwischen zwei Verpflegungspunkten. Nach gut 200 m trabe ich langsam an. Schnell bin ich nicht, aber ich komme voran.

Vor mir liegt sicher einer der langsamsten und schwersten Abschnitte. Kurz nach dem Versorgungspunkt erreiche ich die 55,6 km Marke und beende damit die dritte Etappe von den fünf Etappen an diesem Tag. Es ist gegen 13:20 Uhr und ich bin gute 6,5 Stunden am Laufen.

Etappe 4 – Kilometer 55,6 bis 78

Etappe 4… Ich meine, ich ahne … nein mir ist absolut klar, dass dies nun die heftigste Etappe ist. Dieser Gedanke zieht mich runter. Ich mache einfach dumme Anfängerfehler, dass ich so denke. Doch die Wärme, die Sonne und die alles drum herum verstärken diesen Gedanken und bremsen mich. Ich müsste es doch eigentlich besser wissen, sagt ein Gedanke in mir. Viele Menschen sehe ich auf dem aktuellen Abschnitt nicht. Mal ein Mountainbiker, mal einen Wanderer, aber es sind nie wirklich viele Leute. Es wird erst deutlich mehr als ich zum Bismarckturm komme. Viele Sparziergänger und Freunde des Picknicks versammeln sich hier.

Ich laufe in Gedanken vor mich hin, quäle mich über die Strecke und durch die erhebliche Wärme. Und dann… BÄM! Ich realisiere eine SiL Markierung. Ich kreuze gerade die Laufstrecke vom Silvesterlauf in Rödinghausen. Der Silvesterlauf an dem ich schon sicher gute zehnmal teilgenommen habe. Ich bleibe stehen und muss davon ein Foto machen und es in der erwähnten Gruppe sofort teilen. Ich weiß auch sofort, auf welchem Abschnitt der SiL-Runde ich mich befinde. Ich freue mich sehr und möchte diese Freude teilen. Alleine dieser Umstand, diese drei weißen Buchstaben auf einem Baum geben mir für einige Kilometer einen richtigen Anstoß. Ich fühle mich wie ausgewechselt. Ich renne gerade förmlich, weil ich mich so freue. Wohl wissend, dass es sich später rächen könnte. Kurz danach laufe auf einem Singletrail, der Parallel zu einer Waldautobahn (breiter Schotterweg) verläuft. Als ich die 59 km Marke passiere, wird mir klar, dass der nächste Verpflegungspunkt nicht mehr fern ist und es nun fast nur noch bergab geht.

Ich lasse es locker laufen und freue mich auf die Verpflegung, die bei km 61 kommen soll. Kurz vor dem Verpflegungspunkt ist eine Baustelle und ich muss erst einmal schauen, wie ich nun weiterkomme, da die Straße komplett gesperrt ist. Zum Glück gibt es einen sehr kleinen Weg für Fußgänger, der extra angelegt wurde. Ich werde bei dem siebten Verpflegungspunkt von alten Bekannten überrascht, die extra erschienen sind, um mich zu überraschen und anzufeuern. Jessica und Sven, vielen Dank das ihr da ward. Ich verweile etwas länger, da ich mich gerne unterhalten möchte und auch es würdigen möchte, dass sie extra angereist sind. Doch nach einigen Minuten muss ich weiter, denn schließlich möchte ich das Ziel erreichen. Wahrscheinlich war dies meine längste Verweildauer an einem Verpflegungspunkt. Ab jetzt liegen nur noch 4 bis 6 km zwischen den restlichen Verpflegungspunkten. Was ein Glück! Dies motiviert mich, da ich endlich in kleineren Schritten denken kann. Ich laufe weiter. Ich nutze die Gelegenheit und mache keine Fotos und bin bemüht zügig und kontrolliert den nächsten Abschnitt durchzulaufen. Dies gelingt mir auch und ich erreiche kurz danach schon den achten Verpflegungspunkt nach 67 km (Kalle Wart): Dort wartet neben dem Support-Team mein Onkel Frank und mein Cousin Max. Die beiden werden mich auf dem nächsten Abschnitt begleiten und Sara kommt ebenfalls ein zweites Mal mit. So sind wir nun sogar zu viert. Dass ich nicht mehr allein bin, hilft mir enorm.

Auch wenn es direkt ordentlich bergauf geht, fühle ich mich viel besser, kräftiger und muss nicht mehr so sehr mit mir selbst kämpfen. Schnell erreiche ich die 70 km Marke. Langsam kommt das Gefühl in mir auf, dass ich mich dem Ziel nähere. Mein Tief scheint entgültig verschwunden zu sein. Wir unterhalten uns zu viert und tauschen uns aus. Ich frage mich, was mein Cousin und Onkel denkt. Sie haben mich schließlich noch nie auf einem Ultra gesehen, geschweige denn begleitet. Nach 71,5 km erreichen wir gemeinsam den neunten Verpflegungspunkt und kreuzen die B239.

Dies bedeutet für mich „Ich bin so langsam in meiner alten Heimat“. Hier wird mich mein Onkel, mein Cousin und Sara verlassen und William begleitet mich zum zehnten Verpflegungspunkt. Wir laufen nach einer kurzen Pause los. Da wir uns ebenfalls viel unterhalten, komme ich viel besser mit der Distanz zurecht. Ich gehe zwar auch mal zwischendurch, aber wir laufen einen großen Teil der Strecke. Unser Hauptthema ist das Ultralaufen und das ist es gar nicht so schnell und stressig ist, wie ein Straßenmarathon. William ist über diesen Umstand sichtlich überrascht. Ich berichte von meinen Erfahrungen, dass es beim Ultralaufen eben um etwas anderes geht, als immer am Limit zu laufen. Ultralaufen ist entspannter und die Zeit ist für mich eben nicht immer das Wichtigste. Die Zeit ist auch viel relativer, eben da man meist sehr viele Stunden unterwegs sei.

Er kann sich auch vorstellen einen Ultra zu laufen. Wir reden über die Einstiegsmöglichkeiten und mögliche Ziele. Natürlich ist das Jahr 2020 ein besonderes, in dem aktuell kaum bis keine Ultraläufe angeboten werden können. Doch umso mehr kann es als Vorbereitungsjahr genutzt werden, um in dem Jahr 2021 anzugreifen. Wir reden viel über ihn und seinen Beruf. Ich bin froh, dass er viel erzählt und ich zuhören kann. Ich habe so schon den ganzen Tag mit mir selbst gekämpft und insbesondere mit der Wärme. Da ist es schön einfach jemand zu lauschen und sich mit etwas anderem Mental zu beschäftigen. Die Kilometer verfliegen schnell und wir erreichen den zehnten von mir geplanten Verpflegungspunkt bei Kilometer 78. Dieser Verpflegungspunkt bedeutet auch, dass ich um 16:53 Uhr die schwerste und anspruchsvollste Etappe hinter mir gelassen habe.

Es ist auch die Etappe, für die ich wohl am längsten gebraucht habe. Ich bin nun 10 Stunden auf den Beinen und habe noch 18 Kilometer vor mir. Ich schließe dieses Kapitel ab und blicke nach vorne. Nun kommen Abschnitte, die ich teilweise kenne, eben da sie auch ein stückweit Heimat bedeuten. William erklärt, dass er mich gerne noch ein weiteres Stück begleiten möchte. Ich bin über diesen spontanen Beschluss froh.

Etappe 5 – Kilometer 78 bis 95,8 (Ziel)

Als ich den Verpflegungspunkt mit William verlasse, ist Sven schon in großer Vorbereitung für das Finale an diesem Tag und das hat es in sich. Ab dem elften Verpflegungspunkt habe ich Leute bei mir, die mich bis ins Ziel begleiten. Ich bin im jetzt schon dankbar, dass sich das Support-Team so ins Zeug hängt. Ich kämpfe Kilometer um Kilometer weiter auf der letzten und fünften Etappe. William und ich unterhalten uns weiter, wenn auch nicht soviel, wie zuvor. Das liegt auch an mir. Ich brauche einen kurzen Moment Ruhe. Es ist kein tief oder ein konkretes Problem, was mich beschäftigt. Es ist einfach nur der Wunsch einen kurzen Moment Ruhe zu haben und einfach diese zu genießen. Manchmal benötige ich so eine Phase, um in mich hineinzuhören. Dabei versuche ich festzustellen, ob es irgendwo zwickt, oder wie es um meine Kräfte steht. Mein Fazit lässt sich so zusammenfassen: Es ging mir schon besser, aber das Ziel werde ich erreichen. Nach dem Moment der Ruhe reden wir weiter.

Es folgt ein Wechsel aus Gehen und Laufen. Landschaft? Die ist mir gerade egal. Es geht nur nach vorne und dahin ist mein Blick gerichtet, um die Streckenmarkierungen zu sehen. Es ist faszinierend, wie sehr diese Markierungen einen ins Auge springen, wenn man stundenlang nichts anderes getan hat, als darauf zu achten. Natürlich habe ich den GPX-Track auf der Uhr, doch der ist während des Tages immer nebensächlicher geworden.

Etwas später erreichen wir den vorletzten und elften Verpflegungspunkt. Sven sagt mir, dass mir gleich die ersten entgegenkommen. Ich bin glücklich, dass zu hören. Sven berichtet auch, dass die drei Supporter langsam auch platt vom Tag sind. Support leisten sei eben auch sehr kräftezehrend, erläutert er weiter. Ich habe daran keinen Zweifel und dachte mir im Vorfeld sowas schon. Meine Pause ist nicht lang und geht zügig weiter. Ich möchte die anderen Begleiter nicht warten lassen.

Ich erhalte auch von einer weiteren Unterstützerin, Marina, die Nachricht, dass sie nun am Ziel ist und mir entgegenläuft. Dass sie extra angereist ist, ehrt mich. Ihr müsst wissen. Sie supportete in der Nacht schon eine Freundin in Osnabrück und ist extra hier hingefahren, anstand direkt nach Hause zu fahren. Wie viele Menschen an diesem Tag an mich denken und unterstützen, überwältigt mich. Richtig realisieren kann ich es in diesem Moment nicht. Ich verlasse allein den Versorgungspunkt und habe einen kurzen Moment für mich allein. Es überkommt mich ein wenig plötzlich, denn ich könnte fast heulen vor Erschöpfung. Ich halte dies aber alles zurück. Ich mag manchmal meine emotionale Seite, die besonders hervorkommt, wenn ich erschöpft bin. Sie zeigt mir, dass ich eben auch kämpfen kann.

Ich lasse in meiner Supporter-Chat-Gruppe alle wissen, dass der zweite Marathon an diesem Tage erfolgreich beendet wurde. Dann geht es direkt bergauf. Ich entscheide mich zu laufen, denn ich möchte nicht, dass die anderen merken, wie k.o. ich in diesem Moment bin. Ich wechsle in den Laufschritt und kurz danach kommen mir die ersten beiden schon entgegen: Heiner und Mirko. Die Beiden legen ein ganz schön ordentliches Tempo vor. Ich laufe einen 6 min/km Schnitt. Das habe ich schon seit Stunden nicht mehr getan. Sie motivieren mich auf verschiedensten Ebenen. Ihre Worte, sowie ihre gute Laune erhellen meine Stimmung. Ich beiße die Zähne zusammen und ich bin überrascht, wie gut ich diese Geschwindigkeit zu diesem Zeitpunkt laufen kann. Ich fühle mich so, als hätte ich Pacemaker. Ich entschuldige mich einige Male, dass ich das Gefühl hätte sie zu bremsen und nicht ganz so zügig laufen könne, wie sie es ggf. nun noch könnten. Doch sie beruhigen mich und meinen, dass es okay sei. Es geht ja darum mich in meiner Geschwindigkeit zu begleiten.

Kurz vor dem Lokal „Zum wilden Schmied“ stoßen Maren, Nicole und Marina zu uns. Nun laufen wir zu sechst gemeinsam bis ins Ziel weiter.

Es sind noch gute 5,5 km bis zum Ziel, als wir den letzten Verpflegungspunkt beim Lokal „Zum wilden Schmied“ erreichen. Alle stehen dort im Kreis und warten auf mich. Ich hingegen sitze auf einem Stuhl. Ich entschuldige mich, dass ich mich hingesetzt habe, aber meine Beine seien nun nach 90 km müde. Ich bekomme viel Verständnis, aber ich fühle mich dennoch irgendwie komisch als einziger zu sitzen. Als ich bereit bin weiter zu laufen, geht es los. Jetzt beginnt der wohl schönste Abschnitt. Ich meine das nicht landschaftlich, sondern emotional. Die Erschöpfung ist wie weggeblasen. Natürlich bin ich müde, aber es ist mir nun egal. Das Ziel ist in greifbarer Nähe und fünf Menschen begleiten mich nun. Sven, Sara und William bauen den Verpflegungspunkt schnell ab, da sie sich nun zügig auf den Weg zum Ziel machen, um alles vorzubereiten. Vor allem William und Sara wollen mich den letzten Kilometer mit der Kamera begleiten.

Diese Art der Unterstützung ist unglaublich und fühle mich zutiefst geehrt, glücklich und dankbar so etwas erleben zu dürfen. Von nun an und bis ins Ziel genieße ich jeden Moment, jeden Schritt und jeden Meter. Dieser Abschnitt mit so vielen wundervollen Menschen ist am Ende des Tages viel zu kurz. Schnell ist das Kaiser-Wilhelm-Denkmal erreicht. Es folgt ein 1,5 km langer, wirklich anspruchsvoller Downhill. Er ist insbesondere deswegen anspruchsvoll, weil meine Beine durch sind und nun alle ein hohes Tempo anschlagen.

Wir rennen förmlich den Berg zum Ziel hinab. Hin und wieder scheren Mirko und Heiner aus und sorgen dafür, dass ich eine freie Laufbahn habe und niemand in meinen Laufweg springt. Marina rennt schon einmal vor und baut mit Sven ein kleines Ziel auf. Sara und William stoßen beim Denkmal zu und begleiten mich den Berg mit der Kamera hinab. Und dann bin ich unten auf dem Parkplatz angekommen. Meine Uhr piept, dass der Track erfolgreich und vollständig beendet wurde. Das heißt: Ich habe das Ziel erreicht. Zufälligerweise haben Sven und Marina an der Stelle die Ziellinie aufgebaut, wo meine Uhr piept.

Ziel. Ende. Aus. Vorbei. Jubel.

Um 19:42 Uhr beende ich den FKT (Fasted-Known-Time) und schließe damit die 95,8 km Strecke auf dem Wittekindsweg ab. Ich bin der Erste, der dies so offiziell durchführte und bin somit auch der Inhaber des Streckenrekords und des FKTs. Es ist für mich nicht zu begreifen. So viele haben mich dabei unterstützt dies wahrzumachen und dabei insbesondere die drei Supporter, die mich den ganzen Tag begleitetet: Sven, Sara und William. Ein tiefer und besonderer Dank geht an euch. Ihr seid ein hervorragendes Supporter Team.

Ein Dank geht auch an die Menschen, die mich immer ein kleines Stück begleitet haben: Meinen Onkel Frank, meinen Cousin Max, Heiner, Mirko, Nicole, Marina und Maren. Ihr seid wunderbar und habt mir viel Kraft gegeben und geholfen.

Als Marina mich nach sogar noch nach Hause bringt und ich nicht mit der Bahn fahren muss, bin ich noch dankbarer. Wir unterhalten uns ein Wenig über den FKT, sowie über Gott und die Welt, wie man so schön sagt.

Am Ende steige ich aus einem anderen Auto aus, als ich am morgen eingestiegen bin. Es ist schon ein stückweit verrückt, was ich an diesem Tag erlebt habe. Es wird lange dauern, bis ich es verarbeiten habe.

Ich werde diesen Tag nicht vergessen. Eines habe ich aber direkt verstanden: So ein Tag, so eine Erfahrung ist unbezahlbar.

Offizielle Website vom FKT: https://fastestknowntime.com/route/wittekindsweg-germany

Falls irgendwann jemand schneller sein sollte, würde mein Name dort wahrscheinlich nicht mehr stehen. Daher habe ich einen Screenshot für diesen Bericht erstellt und ihn als Beweis hier hinterlegt:

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein, Sport abgelegt und mit , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert