Es war der 17. Juni 2016, als ich mich früh morgens in den Zug setzte. Mein Ziel war Grainau, das Dorf an der Zugspitze auf der deutschen Seite. Der Grund meiner Reise war der Zugspitzultratrail (ZUT). Es wurden fünf unterschiedliche Distanzen angeboten, von 25 km bis 101 km. Ich entschied mich für den Supertrail: 63 km mit ungefähr 3000 Höhenmeter (Hm).
Während der Fahrt nach Grainau dachte ich viel über dieses Abenteuer, meinen ersten Ultralauf, nach. Ich lebe aktuell in Bielefeld, einer Stadt die den Teutoburgerwald hat und damit einige Hügelchen vorweisen kann, im Vergleich zu den Alpen. Diese bin ich auch fleißig auf und ab gelaufen, doch über 1000 Hm kam ich nie auf einer langen Trainingseinheit. Ich hätte auf jeden Fall andere Ultras zuerst laufen sollen, die vielleicht flacher sind oder mir ein Terrain bieten, welches ich gewohnt bin. Ich wollte aber den alpinen Zugspitzultra laufen! Ich musste ihn laufen! … Als Trainingseinheit. *seufzt*
„Warte… als Trainingseinheit? Das soll dein erster Ultralauf werden. Wieso um Himmels willen, ist das jetzt nur eine Trainingseinheit? Was hast du denn schon wieder vor?“ Ja diese Frage wurde mir genauso gestellt. Meine Antwort war: „Ich habe mich für den Transalpinrun angemeldet. Eine läuferische Alpenüberquerung von Deutschland nach Italien, über Österreich. 250 km mit 15000 Hm in 7 Etappen. Ich dachte es wäre eine gute Idee davor einen alpinen Ultra zu laufen, um Erfahrung mit dem Equipment und dem Untergrund zu bekommen.“ Die Antwort kam prompt: „Du bist doch verrückt!“
Vielleicht hätte ich erwidern sollen, dass ich mir das gut überlegt hatte, bewusst die 63 km ausgesucht habe, um die Königsetappe des Transalpinlaufes zu simulieren und das es so besser war, als einfach nur direkt über die Alpen zu laufen.
Nach einigen Stunden erreichte ich Grainau und es dauerte nicht lange bis ich mich mit meiner Marathonpartnerin Juliane traf. Sie startete zum zweiten Mal auf den 101 km. Ich lernte sehr schnell viele neue Personen kennen, darunter auch die Jungs von exito (Jochen, Stefan und Bart), Markus und ach nach viele andere. So verging der Tag sehr schnell mit Nummern holen, Pastaparty, Streckenbriefing, netten Menschen und einen Regenschauer, der so heftig war, dass man sich im Zelt nicht mehr unterhalten konnte, weil das prasseln auf das Dach so unfassbar laut war.
18.06.2016
5:00 Uhr – Aufstehen
Ich stehe so langsam auf und mir wird bewusst, dass dies der Tag meines vielleicht ersten Ultras wird. Ich packe meinen Rucksack zum allerersten Mal und habe Angst, dass nicht alles rein passt. Wieso habe ich eigentlich dies nicht vorher ausprobiert? Ich ärgere mich über mich selbst kurz. Was ist wenn ich nicht alles mitbekomme? Es gibt eine Reihe von Dingen, die ich als Pflichtausrüstung in meinem Laufrucksack mitführen muss: wasserdichte Regenjacke; komplettes Set an warmer, langer(!) Kleidung; Handschuhe; Mütze; Stirnlampe mit Ersatzbatterien; Becher zur Aufnahme der Getränke an den Verpflegungsstellen; Wasserbehälter (1,5 Liter); Notfallausrüstung (Von Rettungsdecke, über Notfallpfeife und Verbandspäckchen bis hin zu Wärmedecke und noch mehr Kram); Mobiltelefon und auch dafür Ersatzakkus, da mein Akku nicht mehr lange hält. Ich hatte dann noch meine GoPro dabei. Es passte wirklich alles in meinem 12l Salomon Rucksack bis auf die Jacke. Verdammt. Nach einer kleinen Runde panisches „Alles-muss-rein-Tetris“ schaffte ich es, alles mitzuführen und war erleichtert. Allerdings war ich nun hinter meinem Zeitplan.
Dann musste ich fix zum Frühstück. Dort traf ich Markus und die Jungs von exito wieder, die schon fast fertig waren. Wir quatschen und aßen zusammen. Dann trafen Markus und ich uns etwas später vor dem Hotel und gingen zum Bustransfer, denn unser 63 km Start lag in Österreich und wir wurden erst dorthin gefahren.
7:35 Uhr – Die Fahrt zum Start
Es war herrliches Wetter. Die Prognose war, dass es zum Abend regnen sollte. Doch im Moment hatten wir strahlend blauen Himmel. Wir kamen bei dem Bus Shuttle an, bekamen einen Sitzplatz und fuhren fast 45 Minuten. Irgendwann erreichten wir unseren Start und stellten uns erst einmal ans einsame Klo an. Viele Leute, wenig Klos, so ist das halt. Bei den Klos traf ich dann auch meine alte Vereinskollegin Kathi wieder. Wir quatschten kurz und trafen uns nach dem einchecken im Startbereich wieder und machten ein Selfie. Einchecken bedeutet hier: Die Pflichtausrüstung wird überprüft und wir wurden als anwesend abgehakt. Die Anspannung stieg bei mir. Ich erinnere mich noch, wie ich mich um sah, die hohen Berge um mich herum wahrnahm und überlegte, über welchen ich wohl drüber laufen durfte. Markus und ich wünschten und viel Erfolg und sortierten uns an unterschiedlichen Punkten im Startbereich ein.
Km 0: Der erste Berg
Und dann spielten die Veranstalter das Lied „Highway to Hell“ und kurz darauf ertönte der Startschuss. Es ging los und ich lief locker los. Naja locker, war die Intention. Die ersten drei Kilometer waren nur leicht Bergauf, so dass ich ungefähr eine Pace von 5 Minuten lief. Doch es ging tiefer in den Wald und damit wurde es auch steiler. Nachdem vierten Kilometer war es so steil, dass alle schnell wanderten. An ein echtes Laufen war nicht mehr zu denken. Und so ging es rauf bis auf 2080 Höhenmeter bis zum Scharnitzjoch. Auf diesem ersten Anstieg wurde mir einiges bewusst: Was mach ich hier? Ich habe keine Ahnung, wie ich die Trailstöcke verwende. Ich habe keine Ahnung, wie man solche langen Steigungen effizient hochgeht. Ich habe keine Ahnung wie sehr es mich belasten wird, wenn ich so zügig hier hoch gehe und abschließend bleibt nur zu sagen: Ich hatte ich absolut keine Ahnung, was ich hier eigentlich machte. Ich wusste warum, ich hier lief, aber ich wusste nicht wirklich was ich da mache. Ich fühlte mich wie ein Anfänger, völlig unbeholfen und mir wurde sehr schnell klar, dass ich dieses Gefühl vergessen hatte. Ich schaute die anderen Läufer_innen an, wie sie die Stöcker benutzten, ihre Beinarbeit und hoffe mir irgendwas abgucken zu können. Ich war ein erfahrener Läufer, sogar ein erfahrener Marathonläufer. Ich hatte nur keine Ahnung von alpinen Läufen und ich war noch nie über 2000 m in der Höhe. Ich wusste nicht einmal, ob ich die Luft vertrage. Der Gedanke, dass dies primär ein Trainingslauf ist, half mir sehr. Es fokussierte mich auf das wesentliche an diesem Tag: Nicht stürzen, nicht übertreiben und neue Erfahrungen sammeln. So ging ich den ersten Berg hoch. Plötzlich sah ich frei rumlaufende Kühe neben mir und Ziegen und ich war so positiv überrascht, weil ich das einfach nicht kannte. Alles war so neu für mich, so anders als alles was ich bisher erfahren durfte.
Irgendwann kurz vor dem Gipfel des ersten Anstieges sah ich das Schild: „55km to go“. Ich wusste, dass ab hier spätestens die 80er und 101 km Läufer die identische Strecke laufen müssten, wenn sie ins Ziel kommen möchten. Nach dem Anstieg auf das Scharnitzjoch ging es weiter. Ein langer Downhill kam und auch hier musste ich einiges sofort erfahren: Ich kann kein Downhill laufen. Ich war sehr vorsichtig. Insbesondere, als wir über Schnee laufen mussten. Ich war über den Anblick von Schnee so erfreut, dass ich mir dachte: „Es wäre jetzt verdammt toll, wenn ich frontal mit meinem Gesicht den Schnee küsse und mich so richtig hinlege.“ Gesagt, getan. Ich rutsche als Bonus sogar noch etwas abwärts, aber nur so 1-2 m. Mein erster Gedanke war „Ich hoffe, alles ist heile.“ Nachdem ich aufstand und alles überprüfte, stellte ich fest, dass alles in Ordnung war. Ich lief weiter den Berg runter. Irgendwann kamen wir zu einem Abschnitt, der durch den Regen der Vortage völlig aufgeweicht war. Ich war sehr langsam und ließ eine Menge Leute vorbei.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kam ich endlich in einen eher flacheren Abschnitt mit guten Forstwegen, wie ich es aus der Heimat kenne. Sofort ergrifft ich wieder ein ordentliches Lauftempo und freute mich enorm. Ich tippte, dass die erste Verpflegungsstation (VP) nicht mehr weit weg war. Dies war die VP 5. Die Zählung galt für die 101 km Läufer. Erstmal lief ich länger und erfreute mich, dass ich die ersten 1000 Hm schon vollendet hatte. Ich fühlte mich im Moment gut und sah optimistisch nach vorne. Zwischendurch unterhielt ich mich mit mehreren Personen. So rannte eine Frau von der anderen Seite auf das Scharnitzjoch, um ihren Mann auf dem Gipfel einen Kuss zu geben und dann rannte sie wieder runter. Andere berichteten mir, dass der letzte Anstieg noch anspruchsvoller werden sollte. Ich war sehr gespannt.
Km 15: VP 5 und der flache Abschnitt
Ich kam nach gut 2:17h an die VP 5 an und lag damit noch gut in der Zeit. Ich nahm mir viel Zeit, um zu Essen und zu trinken. Getränke wurden auch aufgefüllt. Nach wenigen Minuten ging es weiter. Nun sollte der für mich wohl stärkste Abschnitt liegen: Ein 10 km relativ flacher Abschnitt mit fast keinen Höhenmeter. Ungefähr bei km 26, sollte der nächste VP 6 sein. Als ich los lief, sah ich noch ein Pärchen, welche ordentlich jubelten und ich jubelte zurück. Yeah!
Der Abschnitt war flach. Ich konnte hier meine Schnelligkeit im flachen voll ausspielen. Annähernd die gesamten 10 km lief ich durch, was mir sehr gut tat. Unterbrochen wurde diese Pace nur von Eindrücken, die ich auf jeden Fall auf Fotos und Film festhalten wollte. Es gab wirklich für mich besondere Eindrücke von Flüssen und Bergen, um mich herum. Selbst die Passagen auf einer Straße trübten den Einblick nicht wirklich. Am Ende dieses Abschnitts liefen wir nach Deutschland, genauer nach Mittenwald.
KM 26: VP 6 und der Regen
Ich war total überrascht, dass ich nach gut 3:25h hier schon ankam. Damit hatte ich nicht gerechnet. Bisher lief alles sehr zufriedenstellend, doch Wolken zogen sich zu. Ich aß etwas, füllte meine Getränke auf und lief weiter. Nach gut 5 km sollte schon die VP 7 kommen. Auf ging es.
Ich lief weiter und freute mich auf den nächsten Abschnitt. Er war in meinem Kopf als „eher flach“ im Kopf geblieben, aber so flach war er nicht. Ich konnte die Anstiege plötzlich nicht mehr so gut laufen und ging. Der Regen der Vortage hatte alle Böden aufgeweicht und es war stellenweise, an sehr schlammigen Abschnitten, rutschig. Meine Pace nahm daher ab, aber den meisten anderen Läufern um mich herum erging es ähnlich. Wir Läufer wurden wieder in einen Waldabschnitt gelotst, der zu einem See führte. Ich durfte um den See laufen und erreichte am Ende der fast Umrundung die VP 7.
KM 31: VP 7 und die unerwünschte Kostprobe
Knapp die halbe Strecke beendete ich nach gut 3:58 Stunden. Yeah! Der Regen setzte ein und ich zog meine Regenjacke an. Ich füllte schnell alle Vorräte auf, soviel waren es diesmal nicht auf Grund der Kürze des Abschnittes. Der nächste VP war bei KM 43,5, offiziell. Schon hier hatte meine Uhr mit dem GPX-Track in die Irre geführt und zeigte mir 2 km mehr an (also knappe 33 km). Dies wurde mir erst sehr viel später bewusst. Es ging weiter, und direkt bergauf. Dieser Abschnitt zeigte mir mein erstes Tief auf. Ich lief nicht mehr bergauf. Wir waren auf einem Waldweg, der für mich teils sehr rutschig war. Das führte zu einer unerwünschten Kostprobe als es etwas steiler bergab ging. Ich stand da, mit meinen Stöcken fest in den Boden gerammt und sah nach unten. Überall waren vor mit spuren von Turnschuhen die geschlittert sind. Es war sehr, sehr glatt an dieser Stelle. Ich erinnere mich noch, wie der Gedanke durch meinen Kopf schoss: „Noch ein Schritt und du fällst“. Und so machte ich noch einen Schritt, rutsche sofort vollständig weg und erhielt eine Kostprobe, wie es ist mit dem Po auf Schlamm zu landen und zu rutschen. Meine rechte Hand fand das weniger lustig, da diese einen Großteil der Wucht anfing. Ich stand wieder auf mit einem braunen Po und einer Schlamm überzogenen Hand. Aufstehen, Trailkleidung richten, weitermachen!
Der Abschnitt war schon anspruchsvoller als ich es mir vorgestellt hatte. Ich erinnere mich noch, dass wir durch eine wundervolle Klamm liefen. Ich blieb stehen und war so erfreut von dem Ausblick in die Klamm, dass es die Zuschauer erheiterte. Ich machte einige Fotos, leider wurden diese Bilder nichts, da die Linse wegen dem Regen nass war und ich sie nicht vorher geputzt hatte (Das bemerkte ich aber erst am nächsten Tag, als ich mir die Bilder ansah). Dann folgte ein knackiger Anstieg, der nur im langsamen Tempo zu bewältigen war. Ich traf das Pärchen wieder, welches ich an VP 5 wahrnahm und jubelte. Ich freute mich sie zu sehen, rief zu ihnen rüber und sie jubelten erneut und erinnerte sich ebenfalls an mich. Es war wie eine Qual so kurz vor der VP. Ich hatte Durst und Hunger und musste diesen anspruchsvollen, nicht endenden Anstieg hoch. Am Ende erreichte ich die VP 8. 43,5 km waren erreicht.
Km 43,5: Extra Pausen, viele Gedanken
Zuerst füllte ich alles an Vorräten wieder auf. Es war wie eine Routine, die nicht endete. Mit etwas Essen, Salz und Elektrolyten setzte ich mich erst einmal hin. So! Hinsetzen, Beine ausstrecken, Pause! Ich war schon angeschlagen und es ging mir nicht so gut. Meine Laufgeschwindigkeit hatte stark nachgelassen. Ich erreichte die VP 8 nach gut 6:20h. Damit war ich immer noch unter im Rahmen eines Straßenmarathons, der einem erlaubte um 6:30h zu laufen. Ich wusste, dass es nun noch leicht bergab ging, bevor der letzte Berg mit 1400 Hm im Anstieg und nochmal das gleiche im Abstieg anstand. Wir durften auf die Alpspitze rauf, nicht vollständig aber doch bis 2200 HM in der Summe.
Nach fast 10 Minuten ging ich weiter und lief nach wenigen 100 m auch wieder. Das ich lief bedeutete, dass es flach war oder bergab ging, denn Berghoch konnte ich nicht mehr laufen. Ich konnte in dieser Phase die Natur genießen und schaute vermehrt nach links und rechts. Ich muss an dieser Stelle sage: Was eine tolle, schöne Laufstrecke. Doch plötzlich endete das Bergab und es ging aufwärst. Das war der Moment in dem ich realisierte, dass es nun anspruchsvoll und hart werden würde. Erst war es ein Forstweg, dann ein Pfad. Danach war der Pfad überspült und erinnerte mehr an ein Bach-Rinnsal, als an ein Weg. Ich musste auf einem kurzen Abschnitt teilweise einen Meter hohe Schritte machen, weil zwischen Stufen nicht mehr existieren und das Wasser daran runterfloss. Dann kam ein langer, magischer/mystischer Abschnitt. Moosbedeckte, große Felsen in einem Urwald ähnlichen Abschnitt. Hier war der Pfad auch wieder halbwegs geh bar. Es war ein auf mich schier unendlich lang wirkender Abschnitt, indem ich in zick-zack Form nach oben ging. Da war keine Kraft mehr, keine Energie, ja keine Motivation. Als auf meiner Uhr die 50 km anzeigt wurde (in Wirklichkeit km 47), musste ich mich setzen. Ich sah einen Baumstumpf und machte den Weg für die anderen Läufer frei. Ich wollte nicht im Weg sitzen. Ich holte meine GoPro heraus, wischte dieses Mal die Linse ab und teilte meine Gedanken. Ich war am Tiefpunkt angekommen. Ich war demoralisiert, ich war erschöpft. Ich aß etwas und trank etwas und holte Luft. Ich ahnte, dass solche Pausen nun noch häufiger kommen könnten. Ich war sehr langsam geworden und wollte nur noch ins Ziel und den Lauf beenden. Ich wollte einfach nicht mehr. Erste 80 KM Läufer überholten mich und sahen so schnell aus. Ich war völlig ernüchtert.
Irgendwann erhob ich mich und ging einfach weiter. Es dauerte noch eine Weile bis ich Applaus vernahm und realisierte, dass die VP 9 nicht weit weg war. Hoffnung kroch langsam zurück in meinen Körper. Bis dahin habe ich diesen Zustand einfach ertragen. Und dann verließ ich den Pfad und betrat einen breiten Schotterweg und ich erblickte die VP 9.
Km 50: Schnee und mehr Pausen und Erkenntnisse
Ich erreichte die VP 9 nach 8:11 Stunden. Diese VP war die identische mit VP 10. Ich war noch nicht die gesamten 1400 HM hoch gegangen. Es sollte noch höher gehen; genauer war es eine knapp 7 km lange Schleife, die zu laufen war und genau an dieser VP wieder endete. Hier realisierte ich nun auch, dass meine Uhr inkl. GPX Track völlig falsch waren. VP 9 war für ungefähr km 50 und nicht km 53,5. Ja die Ungenauigkeit stieg weiter an.
Ich sah Läufer_innen anhand der Startnummer, die die 39 km liefen und gerade auf dem Weg runter ins Ziel waren. Ich sah Läufer von der 63 km Strecke, die gerade mit der Schleife fertig waren und ihre VP 10 ansteuerten. Aber alle hatten etwas gemeinsam: Sie fluchten über die Schleife. Diese Tatsache war nicht sehr förderlich für meine Motivation. Es kam der Wunsch hoch, einfach abzusteigen und das Ziel aufzusuchen. Meine Motivation ließ wieder nach und ich entschied mich, einfach den Kopf abzuschalten. Nachdem ich meine Vorräte aufgefüllt hatte, lief ich weiter in die Schleife.
Der Anstieg war nun ein flacherer, breiter Forstweg. Dies führte dazu, dass meine Moral sich anhebte. Ich konnte wieder einigermaßen schnell gehen, sogar phasenweise leicht laufen. Irgendwann lag plötzlich überall Schnee. Doch ich war immer noch nicht oben, dass sollte noch wenige Minuten dauern. Sollte ich bergab genauso gut klar kommen, wie diesen letzten bergauf Abschnitt seit VP 9, dann würde ich wirklich früh ins Ziel kommen. Unter 10 Stunden würde ich noch bleiben. Doch es kam alles anders! Bergab hatten wir keinen Forstweg, sondern einen schmalen Pfad, wo man nur hintereinander laufen konnte. Dieser war zudem rutschig und überspült. Es gab Treppenstufen aus Holz, die nur noch aus einem Balken in der Luft bestanden und deren Enden von Erde umfasst waren. Unter den Balken selbst konnte man durchgucken. Propo gucken: Man sah hier auf Grainau runter: Da unten war das Ziel. Auf geht es! Doch ich war nach zwei Stürzen so vorsichtig und langsam, dass ich oft stehen blieb, um andere vorbei zu lassen. Beim Abstieg blieb ich einmal auch bei einer Bergwacht sitzen und machte eine fünf minütige Pause, um erneut Luft zu holen. Ich fluchte über den Downhill. Wieso konnte man so einen Weg nicht bergauf laufen und dafür den tollen Forstweg bergab? Das hätte mir so viel mehr zugesagt. Irgendwann erhob ich mich, bedankte mich bei der Bergwacht für die Sitzmöglickeit und ging weiter. Als der Weg dann endlich etwas laufbarer wurde, lief ich auch wieder und erkannte irgendwann endlich die VP 10, nach gut 9:45h!
KM 57: Dieser verfluchte letzte Abstieg!
VP 10, unfassbar. Die letzte VP vor dem Ziel. Ich nahm mir viel Zeit, aß heiße Suppe, Nüsse und vieles mehr. Dinge ich die ich in der Ausführlichkeit vorher nicht gemacht hatte. Doch mir wurde auch kalt, ich hatte Hunger und brauchte eine Pause. Ein Helfer sagte mir auf Nachfrage, ich hätte nur noch 6,5 km vor mir, aber er warnte mich auch. Es gebe sehr viele Stürze auf dem letzten Abstieg, denn es sei sehr rutschig und glatt. Der Weg runter sei sehr schwer zu laufen. In diesem Moment erkannte ich, dass ich wohl noch gut 2 Stunden brauchen würde bis ich ins Ziel kommen sollte. Aber was solls, ich hatte noch 5,5 Stunden bis zum Cutoff ins Ziel. Das sollte wohl doch werden! Und die letzten 2 Km sollten ja auch auf Asphalt sein. So reduzierte ich die notwendige, schlimme Strecke auf 4,5 km in meinem Kopf. Bei dem Abstieg traf ich viele interessante Leute. So überholte mich der 5. Mann von den 101 km Läufer. Wir redeten kurz. Er hatte sich um 10 km verlaufen und ärgerte sich, da er vor dem Verlaufen 1. Mann war. Ich teilte ihm mein Mitgefühlt mit. Dann lief er weiter. Eine Läuferin blieb steif hinter mir. Ich war schon langsam aber tastete mich vorsichtig den Weg runter. Sie war ebenfalls vorsichtig und offensichtlich froh, dass jemand den Weg auskundschaftete. Das sah ungefähr so aus: Ich setze langsam die Stöcker vor mich und ging einen kurzen Schritt, setzte die Stöcker wieder vor mich und ging wieder einen Schritt. Nur so hatte ich das Gefühl sicher absteigen zu können. Ich bemerkte wieder Mal, dass ich absolut null Erfahrung mit solchem Gelände hatte und null Ahnung hatte, was ich hier tat. Immerhin blieb ich bisher verletzungsfrei.
Ein kleiner Bach-Rinnsale wurde zu einem großen Bach mit fast 3 oder 4 m Breite, wo es keine Brücken gab und wir direkt durch durften. Es war es Abenteuer für mich, wobei ich bei Tageslicht abstieg. Wie sollte es erst dem Hauptfeld der 101 km Läufer ergehen, die hier nachts runter mussten? Irgendwann kam ich endlich in ein flacheres Stück und dachte, dass ich endlich laufen könne, doch es war so rutschig auf dieser Wiese/diesem Acker, dass Warnschilder auf diesen Zustand zusätzlich hinwiesen.
Und so schlich ich über die Wiese, vorsichtig vortastend um nicht noch zu stürzen. Ich habe nicht gezählt, wie oft ich diesen letzten Abstieg verflucht habe, aber es war oft! Nach der Wiese kam noch ein kurzer Waldabschnitt und dann sah ich nach 11:08 Stunden das „2 km to go“ Schild und betrat Asphalt. Endlich, alles Schlimme war überstanden. Ich fühlte in mich, dass erste Mal seit langem, und spürte, dass ich noch enorme Kraftreserven hatte. Ich lief einfach los und erreichte eine 5 min Pace. Meine Motivation war plötzlich hoch. Der Gedanke, dass ich fast im Ziel war, beflügelte mich. Ich wollte mein Abenteuer ZUT jetzt beenden. Ich überholte noch 2 Herren von der 63 km Distanz, sowie zwei Damen (davon war eine Supergirl) aus der 39 km Distanz. Ich lief konstant und erreichte jubelnd das Ziel nach 11:18:52h.
Eine junge Dame übergab mir die Finisher-Medaille unmittelbar nach dem Zieleinlauf. Ich war zufrieden, glücklich und den Tränen nah in diesem Moment. Ich beendete meinen ersten Ultralauf und konnte es selbst noch nicht glauben. Ich aß Nüsse, Suppe, noch mehr Nüsse, Obst und trank viel. Nach einer guten halben Stunde ging ich zurück zu meinem Hotel. Ich hatte noch auf Markus und Kathi gewartet, doch sie kamen nicht und nun wurde mir kalt. Außerdem sollte der Regen wieder einsetzen und diesmal auch die gesamte Nacht durchregnen. Ich wusste nicht, wo die beiden waren und wann sie eintreffen sollten. Markus sollte gute 45 min nach mir eintreffen und Kathi knappe 3 Stunden, wie ich später erfuhr. Der Weg zu meinem Hotel waren gute 2 km lang. Im Hotel angekommen, guckte ich wo Juliane war. Sie war bei der VP 7 durch. Puh … da hatte sie ja noch einiges vor sich. Es war mittlerweile kurz vor 22 Uhr. Ich schrieb ihr zur Motivation kurze Nachrichten per WhatsApp und alles Gute für die Nacht.
19.06.2016
03:00 Uhr: Wie konnte ich das nur vergessen?
Nach dem Duschen ging ich ins Bett und versuchte zu schlafen. Ich war aber so aufgedreht, dass ein richtiges Schlafen nicht wirklich möglich war. Um 06:30 Uhr sollte mein Wecker klingeln, da ich gegen 7:30 Uhr schon nach Hause fahren sollte. Doch irgendwann gegen 03:00 Uhr erwachte ich zum x-ten Mal. Nur dieses Mal war ich hellwach, stand förmlich senkrecht im Bett. „Ach du Scheiße. Wie konnte ich das nur vergessen?“, entglitt es mir. Ich stand sofort auf, zog mich an und ging zurück zum Ziel. Ich war verärgert über mich, dass ich das nur vergessen hatte. Sowas war mir noch nie passiert. Ich nutzte die Zeit auch, um zu prüfen, wo Juliane war. Sie war bei VP 8 durch. Dann war sie also nun beim letzten Aufstieg. Ich erinnerte mich an die Strecke und dazu kam jetzt noch die dunkle Nacht und der Regen. Ich schrieb ihr erneut aufmunternde Worte, denn ich hätte sie jetzt gebraucht. Ich legte einen Schritt auf dieser 2 km Distanz zu und ging in das Rathaus, welches neben dem Zielbereich war. Ich hörte in der Ferne den Sprecher, wie er neue Finisher ankündigte, die jetzt einliefen. Im Rathaus war die Startnummerausgabe. Genau dorthin ging ich. Bei der Startnummerausgabe waren auch noch Mitarbeiter und Helfer. Ich ging zur 63 km Startnummerausgabe und sprach: „Hallo. Ich habe mein Finisher T-Shirt vergessen. Ich hoffe es gibt noch eines. Schließlich war der Zielschluss vor 3 Stunden für die 63 km Läufer.“ Er schaute in seinem Laptop nach, ob ich wirklich ein Finisher war und holte dann mein T-Shirt und ergänzte, dass ich bis zum Cutoff der 101 km Läufer noch Zeit gehabt hätte. Ich nahm es, bedankte mich und ging erleichtert und zufrieden zurück in Hotel. Das wäre jetzt wirklich ärgerlich gewesen, wenn ich es komplett vergessen hätte. Ich legte mich wieder ins Bett und konnte noch gute 2,5 Stunden halbwegs schlafen, bis der Wecker mich erneut aus dem Schlaf holte.
07:25 Uhr
Ich wartete auf mein Taxi, welches mich zum Bahnhof bringen sollte. Es war 7:25 Uhr, das war der Moment in dem Juliane einlaufen sollte, um ihren zweiten 101 km ZUT zu beenden. Das wusste ich aber in dem Moment noch nicht, sondern erst später als ich im Zug saß. Auf dem Heimweg dachte ich viel über den Lauf nach, guckte mir die Bilder, die ich gemacht hatte an und beschloss, dass ich den ZUT auf jeden nochmal laufen möchte. Die Landschaft und die Strecke waren wundervoll. Die Organisation war super und die größten Kritikpunkte lagen an meiner Unerfahrenheit. Auch lernte ich sehr viel über das Packen von Trailrucksäcken, die Handhabung mit Stöckern, dass ich kein Downhill laufen kann, Ernährung bei Ultras und vieles mehr. Dieser Lauf hatte sich als Trainingseinheit sehr gelohnt, auch um ein Gefühl dafür zu bekommen, was es bedeutet fast 3000 Hm zu laufen. Der Transalpinrun ist alleine von den Fakten her so viel länger und so viel reicher an Höhenmeter. Das war ein gutes Preview, auf das was noch folgen sollte. Ja, es war ein sehr gutes, lehrreiches Training.