07. Dezember 2018
Ich bin jetzt offiziell in der Starterliste der Brocken Challenge 2019. Ich stehe im Badezimmer und lasse mir etliche Gedanken durch den Kopf gehen. Ich habe mir die Strecke angesehen, habe mir alte Berichte durchgelesen und als Video angesehen. Mein Rasierer liegt vor mir und ich denke: Du wirst jetzt nicht mehr soviel zu tun haben. Ich beschließe mir einen Bart wachsen zu lassen, um es im Gesicht etwas wärmer zu haben, falls es wirklich -20 Grad Celsius auf dem Lauf werden würde.
Freitag, 08. Februar 2019
Sina sitzt neben mir in diesem erst leeren und später vollständig gefüllten Hörsaal der Uni Göttingen. Alle unterhalten sich untereinander und es wirkt wie ein dumpfes Rauschen um mich herum. Ich gucke mir die Bilder an, die durch einen Beamer an die Front geworfen werden und vergesse dabei fast alles um mich herum, da ich so gebannt bin. Einige Bilder haben auch Sprüche darauf. Manchmal muss ich schmunzeln, manchmal kommen mir Erinnerungen hoch und einmal verharre ich bei einem Satz auf einem Bild. Ich musste davon ein Foto machen.
„Ein 10.000m-Lauf ist ein Wettkampf,
ein Marathon ist eine Erfahrung,
und ein Ultra ist ein Abenteuer.“
Genau das war es, was ich am nächsten Morgen mir erhoffte. Ein Abenteuer. Ein 80 km Abenteuer, um mit den eigenen Füßen von Göttingen bis rauf zum Brocken zu laufen.
Samstag, 09. Februar 2019
Vor dem Start
Mein Wecker klingelt um 4:15 Uhr. Ich stehe, sehr müde, sofort auf. Es dauert nicht lange, bis ich wach bin. Es ist ein Zeichen dafür, dass ich angespannt bin. Ich wollte entspannt sein, aber daraus wird nichts. Ich möchte mir auch nichts vormachen. Sina folgt mir im Rhythmus der frühen Uhrzeit: Aufstehen und fertig machen. Sie startet nicht, aber sie unterstützt mich. Was bin ich froh, sie an meiner Seite zu haben.
Wir checken gegen 4:40 Uhr aus dem Hotel aus und fahren zum Start. Gegen 5 Uhr kommen wir an und ein großes Frühstücksbuffet begrüßt mich. Allein die Anzahl an Helfern ist enorm. Die müssen auch alle wahrscheinlich noch früher aufgestanden sein, um uns Läuferinnen und Läufer zu unterstützen. Es wird geredet, getrunken, gegessen. Ein Kamerateam vom MDR läuft um uns herum. Das Buffet ist hervorragend. Soviel kann ich schon vorweg erwähnen: Liebe Leute… Die Verpflegung, die Verpflegung!
Wir sitzen in einer Scheune, dekoriert mit Lichterketten, einer Discokugel und vielen lieben, netten Menschen. Es ist kalt, aber zum Glück nicht so kalt, wie außerhalb der Scheune. Draußen ist die Temperatur einstellig und immerhin im positiven Bereich.
Start und der erste Marathon
Wenige Minuten vor dem Start verlassen Sina und ich die Hütte. Der Start ist nur wenige Meter entfernt. Eine Startlinie gibt es nicht. Es wird eine kurze Rede von einem großen Stein gehalten und dann ruft der Sprecher sinngemäß: „Und jetzt geht es los.“ Und die gut 180/190 Läuferinnen und Läufer laufen los. Es ist punkt 6:00 Uhr, stockdunkel und es nieselt leicht und es sind 8 Grad in Göttingen. Etliche Kopflichter erleuchten die sonst dunkle Straße. Ich habe mich für Straßenschuhe für den ersten Marathon entschieden und hoffe ich habe keine falsche Entscheidung getroffen.
Kathi ruft mich plötzlich von hinten. Sie hat dieses Jahr das gesamte Essen für alle Bereiche organisiert und gehört somit zur Crew der Brocken Challenge. Sie läuft zum vierten Mal diesen Lauf. Wir kennen uns schon aus gemeinsamen Vereinszeiten von vor 10 Jahren in Löhne. Wir reden kurz und dann trennen sich unsere Wege. Mein Kopflicht erhellt einen kleinen Spot vor mir. Immer mal wieder erscheinen kleine Fackeln am Wegesrand, die die Dunkelheit aufbrechen. Auch wenn ich nicht allein bin, ist es sehr ruhig. Ich mag diese Art von Atmosphäre, die ich auch schon beim Taubertal 100 km Lauf im Jahr 2017 wahrnahm. Ich lief auch damals die ersten 1,5 Stunden in der Dunkelheit. Diese Stille, diese Ruhe und doch laufen hier gute 180 Leute gemeinsamen zu einem 80 km entfernten Ziel.
Es geht über Straßen, Waldwege und wieder über Straße. Es geht mal leicht hoch und leicht runter. Bei einem Downhill nach 4-5 km im Wald liegt teilweise Eis und schon bereue ich meine Schuhwahl. Ich rutsche etwas und nehme das Tempo raus. Als ich irgendwann wieder die Straße unter meinen Füßen spüre, bin ich wiederum froh über meine Schuhwahl.
Nach 9 km, es ist immer noch stockfinster, knallt es. Ich werde aus meinem Gedanken gerissen und richte meinen Blick in Richtung des Knalls. Erst sehe ich nichts, bis es erneut knallt. Ich richte meinen Blick gegen den Himmel und sehe ein Feuerwerk. Je näher ich dem Feuerwerk komme, umso deutlicher erkenne ich, dass die Feuerwehr alle 1-2 Minuten eine Rakete in den Himmel schießt. Ich muss lächeln und freue mich. Der Veranstalter sagte, dass das Dorf Landolfshausen, was vor mir liegt, eine richtige Feier veranstalten möchte und das zum ersten Mal, bei der 16. Brocken Challenge. Ich denke in dem Moment: Das ist ein wunderbarer Anfang eines Abenteuers. Als ich Landolfshausen betrete, sehe ich mich um. Viele Einwohner gucken aus dem Fenster oder stehen an der Straße und halten Schilder hoch. Ich bin hier schon begeistert. Richtig Stimmung gibt es am Ende des Dorfes beim ersten Verpflegungsstand. Dort stehen viele aus dem Dorf, jubeln, machen Live Musik, singen und feiern uns Laufenden an und es ist immer noch vor 7 Uhr! (Es gibt vom Dorf selbst auch ein Video dazu: https://www.youtube.com/watch?v=MFRfSzj-2c8 ). Da steht gefühlt ein ganzes Dorf auf und macht Stimmung am frühsten Morgen. Ich bin nachhaltig beeindruckt und gerührt.
Ich sehe aufgrund der vielen Menschen und der Dunkelheit Sina nicht. Dafür sieht sie mich und kommt zu mir. Sie hilft mir meine Flaschen aufzufüllen und ich kann kurz etwas essen und trinken, denn bei einem Ultra ist es für mich wichtig direkt zu Essen. Ich bedanke mich bei den vielen Helferinnen und Helfer und natürlich bei Sina. Es folgt direkt ein Anstieg und ich gehe kurz weiter, um in Ruhe aufzuessen. Es gibt zwar keine Straßenlaternen, dafür sind der Straße bergauf entlang Fackeln aufgestellt. Diese Art von Details machen die Brocken Challenge zu etwas wirklich Besonderem, ganz abgesehen von dem wundervollen Zweck und der Idee, die hinter dem Lauf steht.
Nach gut 14 km dämmert es langsam. Ich freue mich über das Tageslicht. Nach zwei weiteren Kilometern stecke ich mein Kopflicht weg. Ich laufe an einem See vorbei und laufe plötzlich mit zwei weiteren Läufern. Diese Dreiergemeinschaft wird gute 10 km halten. Ich bin der einzige Neuling von uns dreien bei der Brocken Challenge, aber zu meiner Überraschung nicht der unerfahrenste Ultraläufer.
Sich zu unterhalten, etwas zu reden und nicht ganz allein zu sein, erfreut mich. Es geht zwischen Feldern hindurch. Die Strecke ist zu diesem Zeitpunkt recht flach und ich kann es gut rollen lassen. Nach dem ersten Halbmarathon erreiche den zweiten Verpflegungspunkt. Wieder laufe ich durch ein Dorf durch und ich habe keine Ahnung wie es heißt. Die Leute am Verpflegungspunkt sind sehr freundlich, hilfsbereit und zuvorkommend. Und die Verpflegung… Leute… die Verpflegung! Ich packe mir für den nächsten Abschnitt reichlich ein. Sinas Anwesenheit gibt mir viel Kraft. Wir wechseln einige Worte, bevor ich dann allein weiterlaufe. Die anderen beiden sind schon vor mir losgelaufen, aber ich wollte mich nichts stressen lassen. Jetzt sind es wieder gute 10 km bis zum nächsten Verpflegungspunkt. Die Sonne bricht durch die Wolken durch.
Es ist zwar Anfang Februar, aber dieser Moment hat einen frühlingshaften Charme, nahezu windstill und die Sonne wärmt mich, so kurz nach 8 Uhr morgens. Es folgt eine lange Passage durch einen Wald, der für meine Straßenschuhe enorm matschig und rutschig ist. Ich muss hier viel gehen und sehr aufpassen, denn ich verfluche gerade wieder die Schuhwahl. Irgendwann kommt endlich wieder eine Straße und ich kann wieder normal laufen.
Und ganz in der Ferne erblicke ich auf Grund der halbwegs guten Sicht zum ersten Mal den Harz und denke mir: Scheiße ist das weit weg.
Etwas später erreiche ich den 3. Verpflegungspunkt und 30 km sind somit erfolgreich geschafft. Sina wartet schon auf mich, ach welch großartige Frau! Bei dem Verpflegungspunkt steht ein Schild „Das Ziel ist 970 Hm über dir und 49,3 km vor dir“. Ich denke mir: Auf geht’s! Ich packe mir Verpflegung ein und gehe weiter. Sina kommt einige Meter mit, solange ich enorm leckere Bio-Schokolade vom Verpflegungspunkt in mich rein drücke. Wir reden kurz über den bisherigen Weg und wie die Strecke so ist. Mein Fazit ist, dass die Strecke bisher eine nette, aber noch nicht wirklich besondere Strecke sei. Eine Challenge ist es bisher nicht, berichte ich ihr. Denn im Großen und Ganzen ist es schon ein recht flacher erster Marathon. Aber das sagten viele. Die Challenge soll ja erst nach dem ersten Marathon beginnen.
200 m später laufe ich wieder an und Sina geht zurück. Die Waldpassage vor mir ist nun teilweise eisig und wieder verfluche ich meine Straßenschuhe. Ich habe keinen Grip und muss allein wegen der Bodenbeschaffenheit gehen. Dabei werde ich immer mal wieder von einem Läufer oder Läuferin überholt. Auch sind hier Forstarbeiten, die mich zwingen durch den Matsch zu gehen, weil die Fahrzeuge die gesamte Straße einnehmen.
Nach diesem Abschnitt folgen nur noch Straßen, die eisfrei sind. Es geht somit zügig weiter und ich kann wieder normal und locker laufen und überhole sogar den einen oder anderen Läufer, der mich zuvor im Wald stehen gelassen hat. Der Hauptteil der aktuellen Strecke geht durch Felder und an einsamen Häusern vorbei. Es zieht mittlerweile wieder zu, ich sehe keinen blauen Himmel mehr. Immerhin regnet es nicht. Nach 40 km schicke ich meiner WhatsApp Gruppe, die den Lauf live verfolgt eine Sprachnachricht und bin selbst überrascht, wie gut es mir geht und wie ich klinge. Ich laufe erneut durch eine Ortschaft entlang und ich weiß ich muss in der Nähe der Stadt Barbis sein.
Und dann erscheint vor mir der 4. Verpflegungsstand und damit das Ende des ersten Marathons an diesem Tag. Ich laufe eine Straße leicht bergab, bis ich im Verpflegungspunkt bin. Zuschauer jubeln und feiern jeden der einläuft. Sina steht dort wie abgesprochen mit dem Auto. Bevor ich etwas esse, gehe ich zum Auto und ziehe mich um. Es sozusagen mein persönlicher Dropback. Ein trockenes Oberteil, eine neue Jacke, neue Schuhe geben mir einen kurzen Augenblick ein gutes Gefühl von Erholung und Wärme. Ich nehme meine Trailstöcker nun mit. Ich packe meinen Rucksack teilweise komplett neu. Einige Gels bleiben im Auto, andere Riegel nehme ich dafür mit. Ich kann einfach irgendwann diese Gels nicht mehr sehen und gerade auf einem Ultra, wo ich viele Steigungen habe, esse ich gerne etwas „Richtiges“ als ein Gel. Ich erwarte von der zweiten Hälfte viel und das Schlimmste. Entsprechend bereite mich auf den nun auf die Challenge vor. Ich blicke in Richtung eines kleinen Tunnels und frage mich selber ‚Dahinter soll alles anders werden?‘ Ich bin ungläubig, aber irgendwie Zweifel ich nicht an diesem Gedanken, sondern ganz im Gegenteil. Ich habe einen erheblichen Respekt, was jetzt wohl kommen mag.
Nachdem ich umgezogen bin, trinke ich am Verpflegungspunkt noch etwas und gehe langsam los. Die ganze Aktion am Verpflegungspunkt 4 dauert ca. 10-15 Minuten. ‚Auf geht es‘, denke ich mir. Sina kommt bis zum Tunnel mit und wir verabschieden uns. Als ich mich von Sina verabschiede, sind 4,5 Stunden seit dem Start vergangen. Sie fährt jetzt zu unserer zukünftigen Hündin und schaut sie sich zum ersten Mal in Ruhe an. Wir werden uns wohl erst im Ziel wiedersehen, wenn alles gut geht. Dann laufe ich los.
Die Challenge oder wie nach dem Tunnel alles anders wurde
Ich verlasse den Tunnel, der wirklich nur wenige Meter lang ist, und laufe los. Ich werde es vermissen, Sina nicht mehr an den Verpflegungspunkten zu sehen. Jetzt bin ich auf mich allein gestellt. Gute 40 km liegen bis zum Ziel vor mir. In Videos, die ich mir im Vorfeld angesehen hatte, wirkte es immer so, als wenn es nach dem Tunnel plötzlich anders werden würde. Ich bin gespannt, wie lange ich laufen könnte, bis ich das erste Mal gehen müsste. Die Antwort kommt schnell: Keine 500 m. Es ist direkt sehr steil und ich krieche den Berg hoch. Oben erwarten mich Eis-überzogene Feldwege. Jetzt habe ich Trailschuhe an, jetzt hatte ich endlich mehr Grip, aber Eis ist immer noch nicht mein Lieblingsuntergrund. Doch vor mir erscheinen immer mehr Berge. Ich war im Harz angekommen. Gefühlt kommt das wirklich alles aus dem Nichts.
Mit jedem Kilometer wird der Schnee mehr und das Eis bleibt. Ich sehe einen Läufer in der Ferne vor mir stürzen, weil er auf dem Eis ausgerutscht ist. Der steht wieder auf und läuft weiter. Ich sehe sonst niemanden und fühle mich komplett einsam. Die Strecke ist im Grunde nicht zu verfehlen und gut markiert, was mich beruhigt. Links fließt ein Bach, überall liegt Schnee am Wegesrand und im Wald. Der Weg selbst ist pures Eis. Ein Laufen ist fast nicht möglich. Zu einem gewissen Teil verfluche ich diesen Umstand, insbesondere, wenn ich rutsche. So probierte ich es aus, auf dem Rand zu laufen. Das ist gefühlt jedoch anstrengender. So schlich ich abwechselnd langsam laufend und gehend den gefühlt endlosen Weg entlang, der zudem ohne Unterbrechung kilometerlang bergauf ging. Dieser Abschnitt wird – der Entsafter – genannt und es ist mir jetzt schon klar wieso. Mein Glück ist es, dass dieses Jahr dieser Abschnitt entschärft ist, weil es einen Verpflegungspunkt bei Km 52 gibt. Diesen gibt es nicht jedes Jahr. Es kann in manchen Jahren sein, dass zwischen dem Marathon und Kilometer 63 kein Verpflegungspunkt ist. Bei dem Gedanken begreife ich langsam auf, auf wie vielen Ebenen dieser Lauf eine Challenge ist.
Irgendwann sehe ich das Ende des Anstieges und einen Pavillon. Als ich beim Verpflegungspunkt endlich einlaufe, bin ich sehr froh. Nette Leute, gutes Essen und Getränke, sowie eine kurze Pause tun mir gut. Lange möchte ich jedoch nicht verweilen, denn schließlich liegen immer noch gute 30 km vor mir.
Nach dem 5. Verpflegungspunkt nimmt endlich das Eis auf den Wegen ab, weil der Schnee zunimmt. Nun laufe ich endlich im tiefen Schnee im Harz. Dies ist der Moment, worauf ich mich so sehr gefreut habe. Ich muss wie ein Honigkuchenpferd strahlen. Das ist es, was ich wollte. Ich liebe es im Schnee zu laufen. Ich hatte hier soviel Freude, dass es mir schwerfällt dies in Worte zu fassen. Es ist nicht leicht, denn es ist anstrengend. Der Spaß und die Freude überwiegen bei weitem. Ich bleibe irgendwann kurz stehen und ziehe zum ersten Mal in meinem Leben mir Spikes und Schneeketten unter die Laufschuhe und Laufe langsam weiter. Ich möchte zuerst ausprobieren, wie das Laufen mit Schneeketten und Spikes so funktioniert.
Nach einigen hundert Metern überkommt mich ein Gefühl von: Das wird schon irgendwie funktionieren und bisher fühlt es sich im tiefen Schnee nicht anders als sonst an. Dieser Schneeabschnitt fliegt förmlich an mir vorbei, denn irgendwie war es ein Fingerschnippen später, als ich den Verpflegungspunkt bei Kilometer 63 erreiche. Durch meine Freude am Schnee kommt mir dieser Abschnitt sehr kurzweilig vor.
Erneut treffe ich auf nette Leute und eine wundervolle Verpflegung. Man sagt mir, ich wäre innerhalb der ersten 50 Läufer im Gesamtfeld und somit eher vorne im Feld. Das motiviert mich noch mehr. Ich frage mich, was die Menschen motiviert hier stundenlang in der Kälte zu stehen und einige verrückte Läuferinnen und Läufer zu bewirten. Ich bin ihnen so unglaublich dankbar und äußere dies auch hier.
Dann laufe ich weiter. Leider wechselt sich hier Schnee und Eis wieder ab. Doch mit den Spikes unter meinen Schuhen kann ich einigermaßen gut laufen. Nach über 65 km sehe ich einen Schneemann und muss diesen erst einmal fotografieren. Großartig, denke ich mir. Jetzt stehe ich auch an einer Leupe und laufe hinter einem Langlaufskifahrer her. Ein kleiner Traum geht in Erfüllung. Ich achte ganz akribisch darauf mich an die Regeln des Veranstalters zu halten und nicht in die Spuren zu treten. Es ist wunderbar, schön und abenteuerlich. Da fährt einer vor mir Langlaufski in der Leupe und ich hechele da hinter her. Dies bleibt für fast 3 km so.
Bei km 68 ca. erreichte ich den nächsten Verpflegungspunkt hinter einer Gaststätte. Ich muss rückblickend dringend zu diesem Verpflegungspunkt etwas sagen: Liebe Leute von diesem Verpflegungspunkt: Ihr seid großartig gewesen. Ihr habt mir mehr als einmal ein Lachen ermöglicht. Danke für die warmen, motivierenden und humorvollen Worte. Selten erlebte ich eine solch menschliche Wärme an einem Verpflegungsstand, wie bei eurem. Danke!
Gestärkt und motiviert geht es weiter. Ich kann es immer noch nicht realisieren, dass der Schnee immer mehr zunimmt. Es ist schwer zu glauben, wie sehr sich die Landschaft, verglichen zum ersten Marathon, verändert hat. Bin ich immer noch auf dem gleichen Lauf? Es muss wohl so sein! Alles was hier nach km 68 landschaftlich zu sehen ist, ist für mich einfach ein Traum. Der Begriff ‚Winter-Wonderland‘ geht mir nicht nur einmal durch den Kopf. Jeder weitere Kilometer wird immer schöner, der Schnee wird immer höher und traumhafter. Ich gestehe, ich war zwischendurch einer Träne nah und zwar vor Freude.
Den letzten Verpflegungspunkt erreiche ich nach ungefähr 73/74 km. Hier sagte man mir, dass das gesamte Feld etwas langsamer unterwegs sei. Viele hätten erhebliche Probleme mit dem Eis. Außerdem sei ich immer noch unter den ersten 50. Doch das ist mir egal. Ich will nur zügig weiter, um mehr von dieser Landschaft in mir aufzusaugen und die Eindrücke wahrzunehmen. Auf der anderen Seite ist mir auch klar, dass ich leider langsam dem Ende entgegenlaufe. Die letzten Kilometer sind weiterhin ein Traum, ein richtiges – Winter Wonderland – erstreckt sich um mich herum.
Ich laufe fast nur noch Berghoch, teils mit 30 % Steigung. Ich muss viel wandern und versuche zu laufen, zumindest so gut es geht. Es ist fast windstill, bewölkt und einfach schön und dies bleibt auch so, bis ungefähr 1,5 km vor dem Ziel. Denn plötzlich …
Auf dem Brocken selbst ist ein Orkan und so kämpfe ich mich die letzten 1,5 km gegen 130 km/h Gegenwind. Der Schnee peitscht mir ins Gesicht und es tut weh. Das ist nicht besonders leicht. Daher ist dieses Jahr auch keine richtige Ziellinie aufgebaut, sondern irgendwo hängt das Schild „Ziel“ wo ich hingehen muss.
Ich schiebe mich Schritt für Schritt durch den Orkan und drehe mich einmal um und sehe, wie ein anderer Läufer knapp hinter mir ist. Ich mache in meinem Kopf daraus ein Spiel: Ich gebe meinen aktuellen Platz (welcher es auch immer sei) nicht mehr her und treibe mich mit diesem Gedanken an und drücke mich mit noch mehr Kraft gegen den Wind. Plötzlich stehe ich neben drei, vier Menschen die mir zu klatschen und mir gratulieren. Ich klatsche gegen das Ziel-Schild. Meine erste Brocken-Challenge ist damit beendet. Der zweitlängste Lauf meines Lebens bis zu jedem Tag ist beendet. Ich muss gestehen, dass ich das wirklich schade finde.
Wenn das Ziel irgendwie keines ist oder die letzten 10 km werden hart
Dann gehe ich in das Restaurant auf dem Brocken. Eine Wendeltreppe führte mich nach oben und jetzt merke ich doch, dass ich 80 km in meinen Beinen habe. Als ich das Ende der Treppe erreiche, bekomme ich meine Dropback-Tasche. Nachdem ich die Tasche in Empfang nehme, erhalte ich eine selbstgemachte und aus Ton erstellte Medaille. Als ich den Speisesaal betrete, werde ich plötzlich von allen bejubelt und beklatscht. Ich bin erst irritiert und dann positiv überrascht. Ja jeder wird so empfangen und ich finde es eine wundervolle Anerkennung, die hier unter allen stattfindet. Ich beteiligte mich danach stets dran, wenn jemand es geschafft hat und den Saal betritt.
Ich gehe erst einmal zur Dusche. Welch ein schönes Gefühl es ist, in warmer Kleidung, geduscht zu sein und ein hervorragendes, warmes Essen zu sich zunehmen. Ich sitze hier sicher zwei Stunden. In dieser Zeit kommt Sina im Restaurant an und ich bin nur froh sie wiederzusehen. Vor uns liegt nun der gemeinsame 10 km Abstieg zurück ins Dorf, denn dort steht das Auto, bzw. ist der Bustransport. Von wegen nach 80 km ist Schluss. Dieser Abstieg hat es in sich! Nochmal 10 km herunterzugehen ist wirklich nicht ohne. Vor allem trage ich nun mein Dropback auf dem Rücken, der für mich in diesem Moment sich sehr schwer anfühlt. Sina und ich reden unter anderem über unsere neue Hündin und wie süß sie ist. Wir müssen uns langsam für einen Namen entscheiden, denn unser neues Familienmitglied wird wohl in gut vier Wochen bei uns einziehen.
Ich berichte ihr von meinen Eindrücken auf der zweiten Hälfte des Rennens. Für mich ist jedoch eines klar, ich werde mich erneut bewerben und hoffen, dass ich erneut irgendwann das Losglück habe und an der Brocken Challenge teilnehmen darf.
Als wir nach gut 2 Stunden im Dorf ankommen und ich im Auto sitze, schlafe ich sofort ein. Der Schlaf wird nicht erholsam sein, denn nach einer guten Stunde werde ich wach. Sina weint und verheimlichte mir, dass es ihr sehr schlecht geht. Ich bin erst geschockt und muss die Situation erst einmal realisieren. Dann sage ich direkt, dass ich weiterfahren werde und sie in ihrem Zustand nicht fahrtauglich ist. In Bielefeld angekommen, bringe ich sie in die Notaufnahme, wo sie gut versorgt wird. Ich bin froh, dass ich sie später wieder mitnehmen darf. Wir beide liegen erst gegen 4 Uhr im Bett, fast 24 Stunden nachdem wir aufgestanden sind. Der wunderschöne Tag endet leider sehr unschön. So konnte ich auch für sie an diesem Tag da sein. So erlebte jeder von uns beiden heute seine Challenge und sein Abenteuer. Ich drehe mich zur Nachttischlampe um und mache sie aus.
Lieber Daniel,
ich schreibe einen Artikel für den Durchblick, eine Zeitschrift in einfachem Deutsch (https://mein-durchblick.de/). Für die Januar-Ausgabe schreibe ich einen Artikel über die Brocken-Challenge und bin auf deinen Blog gestoßen. Dabei habe ich mich gefragt, ob ich ein Bild von dir benutzen darf. Ich würde mich über eine Antwort sehr freuen.
Liebe Grüße
Judith