Samstag, 12.05.2018. Vor dem Start
Es ist ungefähr sieben Uhr. Dominik, Sina und treffen uns beim Frühstück in dem Hotel, wo wir in der Nähe von Lichtenstein nächtigen. Das ist südlich von Stuttgart. Es sind drei Stunden bis zum Start des Lichtenstein Trail Marathons 2018. Genau genommen sind es die inoffiziellen, deutschen Meisterschaften im Trail Marathon. Wie, warum inoffiziell? Der DUV (Deutsche Ultramarathon Vereinigung e.V.) fühlt sich erst ab Distanzen über Marathon verantwortlich und der DLV (Deutsche Leichtathletikverband) fühlt sich auch nicht zuständig. Irgendwie scheint es da eine Lücke bei den Wettkämpfen zu geben. So beschloss der Herausgeber des Trail Magazins, Denis Wischnewski, seinen Marathon als inoffizielle, deutsche Meisterschaft auszuschreiben, um eben auf diese Lücke aufmerksam zu machen und die Verbände wach zurütteln. Ich wäre auch hier, wenn es keine Meisterschaft wäre, denn die bedeuten für mich heute nichts. Heute hat etwas anderes eine Bedeutung für mich und damit zurück zum Frühstück.
Dominik, Sina und ich frühstücken gemeinsam und das wir hier sitzen, liegt wohl an mir. Ich wollte diesen Lauf unbedingt laufen. Sina war interessiert und so schenkte ich ihr den Lauf zum Geburtstag. Davon berichtete ich Dominik. Er meldete sich nach kurzer Bedenkzeit sich kurzfristig vor dem Lauf an. Dominik wollte an diesem Tag schon etwas zügiger laufen. Meine Aufmerksamkeit galt an diesem Tag Sina. Schließlich sollte das ein gemeinsamer Lauf werden, denn gemeinsame Zeit ist etwas sehr wertvolles und ich finde gemeinsame Erfahrungen wie so einen anspruchsvollen Marathon sind sogar noch wertvoller. Ich wollte ihr auch zur Seite stehen und für sie da sein, sofern sie einen Durchhänger hat. Sie ist bisher erst einen Marathon erfolgreich gelaufen und dies sollte ihr zweiter Marathon werden. Soviel für die Spannung vorweg: Leider, wurde es nicht ihr zweiter, erfolgreicher Marathon. Doch dazu später mehr. Nach dem Frühstück fuhren wir zum Start des 43 km Laufes mit seinen 1800 Höhenmeter.
Gegen 9:20 Uhr parkten wir auf einem der Parkplätze. „Kurz“ wurde noch die Toilette besucht. Sina freute sich darüber, dass vor dem Damen-WC keine Schlange existierte. Hingegen war bei dem Männer-WC eine gewisse Wartezeit notwendig.
Im Anschluss gingen wir zurück zum Auto, da mir einfiel, dass ich mich gegen einen potentiellen Sonnenbrand eincremen wollte. Das WC und diese Aktion führten dazu, dass es doch sehr knapp mit dem Start werden würde. An dem Auto treffen wir einen Läufer aus Minden. Das erkannten wir, weil er zum einen ein Nummernschild an seinem Auto aus dem Kreis Minden-Lübbecke hatte und zum anderen, weil ich ihn fragte. Matthias war sein Name. Mit ihm gingen wir gemeinsam zum Start. Wir unterhalten uns über dies und das. So weit im Süden, bei einem doch recht kleinen Lauf jemanden zu finden, der aus der gleichen Ecke kommt, ist immer etwas Besonderes. Gute 150 Personen gingen heute und hier über die Marathondistanz an den Start.
Kaum standen wir im Startbereich, da wurde schon von zehn auf null runter gezählt. Für mich ging alles viel zu schnell. Ich konnte mich mental gar nicht auf den Lauf einstellen, bzw. dass es nun los ging. Das Beruhigende in diesem Moment war, dass ich mich nicht besonders auf den Lauf fokussieren musste. Meine Aufmerksamkeit galt Sina und meine Hoffnung war es, dass ein schöner, gemeinsamer Tag vor uns liegen würde.
Start bis Verpflegungspunkt 1 (Km 0 bis Km 11)
Der Startschuss fällt und wir laufen los. Ich schaue kurz zum Himmel und stelle ein letztes Mal fest: Wir haben fantastisches Wetter. Es könnte ein wenig warm werden, aber im Wald wird es sicher kühler sein. Das hoffe ich zumindest. Nach wenigen hundert Metern wechseln wir vom Laufen ins Gehen, denn der erste von drei anspruchsvollen Bergen fängt direkt an. Sina möchte erst noch weiter laufen, doch ich sage ihr, dass sie lieber gehen soll. Sie solle mir vertrauen. Jetzt den Berg zulaufen macht keinen Sinn. Sie zeigt sich irritiert, wechselt aber ebenfalls ins Gehen. Ich sage zu ihr, sie könne sich gerne umdrehen, denn alle vor uns und nach uns würden gehen.
Als es zwischenzeitlich flacher wird, laufen wir wieder an. Ich überlasse Sina das Tempo und nehme mich zurück. Es geht nach einer kurzen flachen Passage wieder bergauf. Das ist der zweite Teil vom ersten Berg. Wir sind immer mehr auf Single-Trails unterwegs. Das sind Wege in der Natur, die so schmal sind, dass keine zwei Leute nebenher laufen können.
Kommt zwischendurch ein Downhill, so lasse ich Sina vor. Der Downhill ist und bleibt meine größte Schwäche. Doch beim nächsten Uphill oder im Flachen habe ich Sina immer recht zügig wieder eingeholt. So pendelt sich zwischen uns ein entspannter Rhythmus ein.
Ich habe ihr zugesagt, dass ich nicht verrate, wann ein nächster Berg kommt oder ein laufbares Zwischenstück. Sina gehört zur Gruppe jener, die den Lauf auf sich zulassen kommen wollen. Ich bin da komplett anders. Ich studiere die Strecke, überlege mir Taktiken, wie ich wo Kraft einsetze oder spare.
Meine Vermutung ist, dass wir ungefähr sechs Stunden für den Lauf benötigen. So beschloss ich mich wenigsten jede Stunde mit Sina abzuklatschen. Das verrät nichts, zeigt aber, dass wir schon entsprechende Zeit unterwegs sind. Da macht sie auch mit und klatscht mit ab. Nach einer Stunde haben wir ungefähr sieben Km geschafft.
Die Ausblicke, oben auf den Rücken der Berge, sind wunderschön. Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß, es wird später noch schönere Abschnitte geben. Sina sagt in diesem ersten Abschnitt mehrmals, ob wir nicht hier hin ziehen wollen. Ich sage, wegen der Natur sehr gerne. Wir lächeln uns an und wissen, dass dies für uns sonst kein Thema ist.
Vor dem ersten Verpflegungspunkt geht es vermehrt bergab. Am Ende eines kurzen Straßenstückes steht ein Tisch mit zwei Wasserkanistern. Es ist der erste Verpflegungspunkt, der wie angekündigt nur Wasser hat. Der nächste Verpflegungspunkt sollte nun ungefähr bei Km 22 kommen. Wir trinken reichlich, füllen das Wasser auf und es geht weiter. „Achtung!“, ruft uns in dem Moment ein Läufer-Duo zu. Als wir gerade loslaufen wollen, überholen uns die ersten beiden Läufer vom Halbmarathon.
Wir laufen direkt hinter ihnen her oder …
Verpflegungspunkt 1 bis Verpflegungspunkt 3 (Km 11 bis Km 22)
… wir gehen eher, da es sofort richtig bergauf geht. Es ist wieder sehr steil und der zweite von drei anspruchsvollen Bergen des Tages beginnt. Wir schweigen hier viel und konzentrieren uns auf den Weg zum Ende des Anstieges. Als wir oben auf dem Berg angekommen sind, nehme ich mir Zeit für den wunderschönen Ausblick über Lichtenstein. Ich sagte zuvor zu Sina, dass sie einfach weiterlaufen solle und ich sie wieder einholen werde. Die Aussicht ist wirklich wundervoll. Zwischen Sina und mir liegt sicher ein Leistungsunterschied. Das ich bei ihr bleibe, hat den Vorteil für mich, dass ich mich nicht gestresst fühle und ebenfalls bisher keine Erschöpfung empfinde. Nach ein oder zwei Minuten des Genusses der Aussicht kommt der Gedanke, dass ich weiter laufen sollte. In dieser Aufholjagd laufe ich nur so schnell, wie ich es gerade als angenehm empfinde.
Ich hole Sina nach wenigen hundert Metern wieder ein. Ich muss gestehen, so sehr ich mich freue bei ihr zu sein, in einem Moment wie diesem, wo ich einfach frei laufen kann, denke ich mir: Ach wär das nun schön einfach mein Tempo zu laufen. Ich meine nicht mein Wettkampftempo, sondern wie ein genussvoller Lauf in den Bergen und Wäldern. An dieser Stelle kann ich verraten, dass mein Maximalpuls an diesem Tag niedriger war, als mein Durchschnittspuls zwei Wochen zuvor beim Hermannslauf. Gut, da bin ich an meine Grenzen gegangen. Ich glaube dennoch, dass es gut aufzeigt, wie wenig gefordert ich bin. Ich berichte all dies, weil es auch Sina auffällt. Sie bietet mir an, dass ich vorlaufen könne. Ich lehne das aus den erwähnten Gründen ab. Ich sage ihr, dass ich folgendes nur einmal erwähnen werde: „Ja, du hast recht. Mir ist das zu langsam. Aber darum geht es heute nicht, sondern, dass wir es zusammen erleben. Das ist wichtiger für mich und darüber freue ich mich aufrichtig. Deswegen bleibe ich bei dir und ich werde es kein weiteres Mal erwähnen. In zwei Wochen ist der Rennsteig-Ultra. Da kann ich mich austoben können.“ Sie akzeptiert die Antwort und damit ist in diesem Moment alles zu diesem Thema gesagt. Wir laufen beide gemeinsam weiter, froh darüber den anderen dabei zu haben.
Plötzlich sehen wir ein Schloss und davor einen Verpflegungspunkt. Das ist ungefähr bei Km 15. Ich schaue auf die Uhr. Etwas mehr als 2 Stunden sind wir unterwegs. Wir geben uns dafür ein High Five. Hier sollte laut Plan keine Verpflegung sein, aber es gibt sie. Wir freuen uns über diese Überraschung und füllen unsere Vorräte auf und laufen weiter. Allerdings bestaunt Sina das Schloss, den Himmel oder irgendwas anderes so sehr, dass sie eine Wurzel nicht sieht und auf dem Schotterweg stürzt.
Sofort versuche ich ihr aufzuhelfen und erkundige mich nach ihrem wohlergehen. Alles gut, meint sie. Sie steht alleine auf, guckt die potentiellen Wunden an und läuft weiter, als wenn nichts gewesen wäre. Es offenbaren sich einige kleinere Schrammen, also nichts Wildes. Zum Glück, denke ich mir. Wir laufen weiter und es geht erst einmal lange bergab. Es ist ein Mix aus Waldwegen und Single-Trails, die dich an Felsen entlang führen.
Unten angekommen, müssen wir eine Bundesstraße kreuzen. Ein Helfer von dem Lauf steht dort und lots die Läufer_innen über die Straße. Nachdem dies passiert ist, sehe ich nach hinten und erblicke das Schloss auf einem Hügel. Es scheint so weit weg, dabei können es nur knappe 3,5 km sein.
Wie immer bei diesem Lauf: Wenn es runter geht, muss es danach wieder bergauf gehen. Unser Weg hat dieses Mal sogar einen Namen: Weg zu den Traifelbergfelsen. Was auch immer das für Felsen sind. Es gehen wieder alle vor uns und wir schließen uns dem an. Als wir wieder oben angekommen sind, folgt ein langes, flaches Stück. Zwei Kilometer laufbarer Singletrail, der sich dicht an steilen Klippen entlang schlängelt. Es gibt Schatten im dichten Wald, teils wunderschöne Ausblicke im lichteren Waldabschnitt und das Gefühl von einem kleinen Abenteuer. Ich genieße diesen Abschnitt enorm. Wir sind recht zügig für unsere Verhältnisse unterwegs und können diesen Abschnitt komplett laufen. Das Ende dieses Abschnittes kündigt sich durch Lärm an, denn wir hören den Sprecher im Ziel.
Da ich die Strecke vorher gut studiert hatte, weiß ich, dass wir gleich in die zweite Schlaufe geführt werden, während die Halbmarathonläufer sich dem letzten Downhill widmen dürfen und ins Ziel rennen können. An der Streckenteilung stehen einige Helfer von der Organisation und führen uns auf die richtige Abzweigung. Sie jubeln allen, auch uns, zu. Sie verteilen High Fives und motivieren zumindest mich enorm. Ich merke, wie ich das Tempo etwas anziehe und doch sofort wieder abbremse. Ich drehe mich zu Sina um, und lächele sie an. Wir haben hier knapp 21 km geschafft und auf der Uhr steht eine Zeit von 2:57h. Sina und ich klatschen uns erneut ab. Bisher läuft es gut für die 6 Stunden, denke ich mir zum letzten Mal an diesem Tag. Sie sieht noch halbwegs frisch aus und ich fühle mich sehr entspannt.
Es geht über ein Feld, gefolgt von einer Straße und durch etwas Siedlung. Dort gibt es auch „Kunst am Berghang“, wo ich mir sage, dass ich auf dem Rückweg unbedingt davon Fotos machen muss. Die Straße bedeutet den Anfang und das Ende der zweiten Schleife. Der Gedanke Fotos zu machen, kommt mir aber erst, als ich mit Sina schon am dritten Verpflegungspunkt stehe, der keine 200 m nach dieser Kunst zu finden ist.
Verpflegungspunkt 3 bis Verpflegungspunkt 4 (Km 22 bis Km 33)
Verpflegungspunkt 3 wird auch unser Verpflegungspunkt 5 sein. Wenn wir also die zweite Schlaufe abgelaufen sind, werden wir wieder aufschlagen und wissen, dass wir bald im Ziel sein werden. Wir essen und trinken reichlich, füllen unsere Vorräte auf und gehen erst einmal weiter. Es geht direkt bergauf durch eine andere Siedlungsstraße. Ich brauche auch gerade etwas Gehzeit, damit mein Magen etwas verdauen kann, denn ich habe reichlich gegessen und getrunken. Schließlich haben wir sicher noch drei Stunden vor uns.
Als wir den Berg hochgehen, lernen wir Alex kennen. Ein Läufer, der ein Jahr zuvor beim Marathon aufgegeben hatte. Er möchte den Marathon dieses Jahr beim 2. Versuch auf jeden Fall schaffen. Soviel sei gesagt, er wird es schaffen. Als es wieder flacher wird, laufen Sina und ich wieder los und lassen Alex hinter uns. Es folgt das gleiche Bild, wie zuvor auf dieser wirklich wunderschönen Strecke: Single-Trails, an Klippen teils entlang mit weiten, tollen Aussichten. Zwischen durch laufen wir an Blumenwiesen entlang, nur um danach wieder auf Single-Trails abzutauchen. Es folgt ein langer, ca 2 km langer Downhill. Sina ist sicher gute 20 m vor mir und ich schaffe es nicht mit ihr mitzuhalten. Von hinten überholen mich 5 Personen, bzw. ich lasse sie vorbei. Mich stresst das enorm, gerade am Downhill, wenn jemand in meinen Nacken hechelt und dann gefühlt immer fast in meine Hacken tritt.
Als ich diese Läufer_innen vorbei lasse, wird die Lücke zwischen uns größer und ist sicher nun gute 80 m. Ich stresse mich aber nicht, weiß ich doch, dass ich im nächsten flachen Abschnitt Sina wieder einhole werde. Der flache Abschnitt besteht aus einer Straße und einem Single-Trail an einer Wiese entlang. Dies ist bei Km 26.
Ungefähr bei Km 27 und somit nach vier Stunden, natürlich klatschen wir auch hier ab, ändert sich vieles. Die wohl größte Änderung ist, dass ich meine eher passive „Ich begleite Sina und überlasse ihr das Tempo und etc.“-Rolle aufgeben muss und in die Rolle „Ich entscheide nun vieles und gebe das Tempo und etc. vor“-Rolle wechsle. Sina wollte plötzlich auf einem halbwegs flachen Stück nicht mehr laufen, sondern gehen. Auf dem bergauf Stück kurz danach wirken ihr Schritte müde. Ihr ganzer Körper sagt mir sehr eindeutig: Ich bin erschöpft. Zum Glück wird es nach wenigen hundert Metern direkt wieder flach.
Sina und ich traben wieder los. Ich sehe, dass sie sich bemüht, doch wir laufen in der Sonne, ohne Schatten. Ich merke ebenfalls bei mir, wie mich die Sonne förmlich grillt, nur geht es mir ziemlich gut. Die nun gut 26 Grad und aktuelle Windstille wirken sich sicher nicht gerade positiv auf Sinas Stimmung aus. Ich stelle mir vor, wie es mir gehen würde, wenn ich an ihrer Stelle wäre. Ich sag mal diplomatisch so, mir würde die Situation nicht gefallen und mir wünschen woanders zu sein. Nach einem knappen Kilometer sehe ich mir Sina erneut an und entscheide, dass wir einige Meter gehen sollten. Mir fällt jetzt auf, dass ich viel aktiver geworden bin und auch Entscheidungen für Sina fälle. Das werde ich nach dem Rennen ansprechen und mich erkundigen, ob das okay war. Sie bedankt sich dafür. Es geht ihr in dieser Phase einfach dreckig und sie war froh, dass ich eben in dieser Phase einfach die Entscheidungen gefällt habe, damit sie sich auf sich konzentrieren konnte. Es ist von nun an so, dass ich das Tempo vorgebe und eben sie nicht mehr lassen mache.
Wir gehen in der Sonne, denn der Wettkampf ist schließlich noch lang und sich in der Sonne fertig zu machen, hilft ihr nicht. Kurz danach geht es in den Wald und in den wohl heftigsten Anstieg des Tages bei Km 30. Es ist einfach nur enorm steil. Nach 2/3 des Weges ist Sina gute 30, 40 m hinter mir. Sie kriecht und krabbelt teils auf allen vieren den Berg hoch, denn ich betone es nochmal: Es ist wirklich verdammt steil. Als ich Sina so sehe, bemerke ich, dass das so nicht gut enden wird. Ich erinnere mich an meinen Transalpine Run und was ich dort schmerzlich lernen musste: Geht es dir nicht gut, mach eine Pause und sammel dich. Meine Erfahrung in der Vergangenheit zeigte mir: Jede dieser sinnvoll, eingesetzten Pausen schenkten mir zum Ende des Laufes mehr Zeit, als ich durch sie „verloren“ hatte, bzw. ich konnte überhaupt erst den Lauf beenden. Ein Beispiel ist hier der Zugspitzultra Supertrail 2017, worüber ich auch einen Blogeintrag verfasste.
Ich setze mich dekorativ an den Rand und warte auf Sina und sage zu ihr, sie solle sich zu mir setzen und seien es nur zwei Minuten, denn das würde ihr helfen. Erst weigert sie sich, doch als ich mit Nachdruck sage, dass es nun wichtig sei, setzt sie sich. Erst nach dem Rennen, im Rückblick, wird ihr klar, wie wichtig diese Pause war.
Wir ruhen uns aus, reden etwas miteinander. Ein weiterer Läufer kommt kriechend den Berg rauf. Ihm ist das Wasser fast ausgegangen und möchte wissen, wann der nächste Verpflegungspunkt kommt. Ich sage zu ihm, dass es sicher noch 2-3 Km seien. Ich biete ihm Wasser von mir an, doch er lehnt ab und geht weiter. Kurz danach stehen Sina und ich auf und gehen ihm hinterher. Sie wirkt nun wieder etwas wacher und konzentrierter auf mich. Wir kreuzen kurz nach dem Berg eine Straße, wo zwei Jungs im Teenageralter sitzen. Den ganzen Tag hier zu sitzen, ist sicher auch nicht sehr spaßig. Ich grüße sie freundlich und sie grüßen entsprechend zurück.
Singe-Trails, Single-Trails, Single-Trails. Mal hoch, mal runter, mal wieder hoch. So sind die nächsten Km bis zum vorletzten Verpflegungspunkt zu beschreiben. Irgendwann kommen wir aus dem Wald und ich sehe links den nächsten Verpflegungspunkt bis ich realisiere, dass wir erst rechts laufen müssen. Warte was? Warum? Wir müssen einen weiteren Single-Trail folgen, der uns mit mit teils fantastischen Panoramaaussichten entschädigt. Ich bitte Sina ein Foto von mir zu machen, doch sie wirkt wenig motiviert. Ich vermute, dass sie einfach weiter möchte, macht aber schnell ein Foto von mir. (Hinweis: Dieses Foto wird nicht im Blog veröffentlicht.) Wir laufen den Single-Trail weiter entlang und gelangen bald endlich zum Verpflegungspunkt 4.
Verpflegungspunkt 4 bis Verpflegungspunkt 5 (Km 33 bis Km 42)
Nach dem Plan sollte es beim Verpflegungspunkt 4 nur Wasser geben, doch hier bekommen wir alles. Essen und Trinken unterschiedlicher Art. Das Beste ist eine Bank im Schatten unter einem Baum. Ich merke, dass ich Hunger bekomme. Die Uhr sagt mir 5:10h sind wir schon im Rennen. Ich nehme mir etwas zu Essen und zu trinken und setze mich unter den Baum. Diese kurze Pause ist jetzt für mich, nicht für Sina. Es ist richtig erholsam hier. Sina setzt sich neben mich. Wir unterhalten uns und ihr fällt auf, dass es mir gerade nicht so gut geht. Da hat sie recht. Ich habe gerade ein tief, welches aber nach dem Essen sofort weg sein wird.
Der Mann an diesem Verpflegungspunkt ist nett, freundlich, hilfsbereit und erzählt uns von den Geschehnissen des Tages. Unter anderem verrät er uns, dass der erste Läufer schon vor zwei Stunden hier war. Das ist sehr beachtlich, denke ich mir.
Ich wende mich wieder Sina zu und sage zu ihr, dass wir nun das meiste haben und es eigentlich nur noch zurück in Richtung Ziel geht. Wirklich aufmuntern scheint es sie nicht, im Gegenteil. In ihrem Gesicht und Augen glaube ich zu sehen, dass sie sich nur noch quält und nicht mehr will. Nach gut fünf Minuten Pause brechen wir auf.
Die Pause tat uns beiden sehr gut und ich kann sagen, dass es bis Km 39 den Umständen entsprechend ganz gut läuft. Doch erst einmal geht es nach dem Verpflegungspunkt 4 auf einer Straße bergab. Irgendwann sehen wir die zwei Jungs wieder, die wir ungefähr bei Km 31 gesehen hatten. Ich rufe ihnen zu, ob wir nicht eben schon einmal bei ihnen vorbei gekommen sind und dort den anderen Weg rein gelaufen sind. Sie bejahten dies. Wir laufen von der Straße wieder runter in den nächsten Waldweg, der uns einlädt vorsichtig zu sein. Es geht steil hoch, ja Sina muss wieder fast krabbeln. Ich rutsche auf einem nassen Stein aus. Moment… nassen Stein? Ja! Es war an diesem Punkt windstill und irgendwie sehr feucht.
Oben angekommen, ist es flach. Ein breiter Forstweg lädt uns ein und wir laufen wieder an. Einen Kilometer am Stück zu laufen, macht uns beiden Freude. Dann müssen wir gehen, weil es wieder steiler wird. Sina sieht immer unzufriedener aus, kämpft sich aber durch. 36 Km stehen jetzt auf unseren Uhren als abgelaufen. Gute 6-7 Km liegen noch vor uns. So wechseln sich laufen und gehen ab, bis wir zu Km 39 kommen. 6 Stunden haben wir mittlerweile auf der Uhr stehen. Zum sechsten Mal klatschen wir uns ab. Wir laufen an Ziegen und Schafen vorbei. Große Weidewiesen werden vor uns sichtbar, als wir den Wald verlassen. Es ist so ruhig, so idyllisch. Es ist einfach herrlich und auf seine Weise erholsam wie anstrengend zugleich. Leider gibt es wieder keinen Schatten. Es geht leicht bergab und es unglaublich gut laufbar. Km 39 ist abgespult, als Sina plötzlich geht. Ich drehe mich zu ihr um und erkundige mich was sei, ob sie Hilfe braucht. Sie hat Magenprobleme, leidet und ist k.o. Mir fällt auch nichts mehr ein, um sie zu motivieren. Daher tröste ich sie etwas und gehe neben ihr. Sie hat es mittlerweile aufgegeben mir zu sagen, dass ich vorlaufen soll. Oder sie freut sich insgeheim, dass sie nicht alleine ist. Genaueres kann ich im Moment nicht sagen.
Nach einigen hundert Metern geht es auf einen Single-Trail weiter. Sie trabt wieder an und kämpft. So wechseln wir Laufen und Gehen immer wieder ab. Die Strecke bleibt schön. Das Bild sieht so aus, dass ich oft 10m vor Sina laufe. Warum? Jedes Mal, wenn ich mich zurückfallen lasse, geht sie sofort oder wird langsamer. Daher habe ich beschlossen, immer leicht vor ihr zu laufen, um sie etwas zu ziehen und wenigstens nicht komplett alles zu wandern. Hin und wieder geht Sina einfach. Wenn das passiert, bleibe ich stehen und warte auf sie und bleibe bei ihr, bis sie wieder antraben kann. Reden wir? Nein, wir schweigen viel.
Es muss nichts gesagt werden. Wenn wir reden, dann geht es nur noch darum, wie es ihr geht. Ihre Arme schlackern unkontrolliert umher, ihr Schritt ist sehr müde und schwerfällig. Ich verstehe sie. Sie war nie so lange unterwegs gewesen; nie hat sie so einen harten Lauf bestritten und die 26 Grad sind eine zusätzliche Belastung. Sie meint mehrmals in dieser Phase, dass sie sowas so schnell nicht nochmal machen wird. Ich muss jedes Mal lachen und sage zu ihr, dass wir in zwei Tagen darüber nochmal sprechen werden. Jetzt sei es wichtig, den Lauf zu beenden. Nein, nein, betont sie. Sie werde sowas so schnell nicht noch einmal machen.
Irgendwo bei Km 40 steht das Wort „Ziel“ mit einem Baum am Rand des Weges.
Ich zeige es Sina, freue mich und hoffe, dass ihr das nochmal Kraft gibt. Doch sie reagiert nicht wirklich darauf und will nur weiter. Ich bin ratlos, was ich noch machen kann und mache daher nichts, außer weiter bei ihr zu bleiben. Als wir den Wald verlassen, laufen wir wieder durch eine Siedlung. Die Häuser kennen wir schon und wissen, dass in gut 200 m der nächste Verpflegungspunkt kommt.
Verpflegungspunkt 5 bis ins Ziel
Es war einst unser 3. Verpflegungspunkt und nun wird es unser 5. sein. Es gibt kaum noch Obst und Getränke. Das Paar, welches alle hier bewirtet sagt uns, dass schon über 100 Teilnehmer_innen im Ziel sind. Als ich nachfrage, wie weit es noch bis ins Ziel sei, meinen sie noch gute 2,5 km. Ich schaue auf die Uhr und sehe 42,7 km. Also werden wir gute 45 km auf der Uhr haben. Hat sich meine Uhr geirrt? Auch Sinas Uhr weicht kaum von meinem Wert ab. Ist es doch ein Ultra?
Einen Läufer, den wir hier ein- und überholen, erzählt nur, dass er auch froh ist gleich im Ziel zu sein. Lange verweilen wir nicht. Die Vorräte müssen nicht mehr aufgefüllt werden und wir trinken nur kurz etwas. Wir gehen direkt wieder berghoch und wie geplant mache ich diesmal Bilder von der Kunst am Hang.
Als wir bei Km 21 waren, mussten wir in die Extraschleife rein. Genau an dieser Gablung sind wir nun und durften in Richtung Ziel abbiegen. Wir hören ebenfalls erneut das Ziel und haben nun den letzten langen Downhill bis ins Ziel vor uns. Ich treibe Sina an: Ein Downhill noch und gleich hat sie es geschafft. Sie solle es nun einfach laufen lassen. Doch anders als bei den langen Downhills zuvor, läuft sie diesmal nicht vor mir, sondern hinter mir. Wir laufen und werden bis zum Ziel nur auf einem flachen Abschnitt kurz gehen.
Etwas vor dem Ziel stehen Rettungskräfte, die ich grüße. Sie grüßten freundlich zurück und rufen, dass es nur noch 800m seien. Gut, denke ich mir. Ich sehe auf die Uhr: 44,7 km zeigt sie mir an. Sina fragt nach, was sie sagten. Ich wiederhole es und betone, dass es kein Kilometer mehr sein wird. Also. Jetzt nochmal mal alles geben. Ich sehe aber, wie schwer sich Sina damit tut. Mein Satz „Je eher du im Ziel bist, je eher hast es hinter dir“ scheint sie mehr zu motivieren.
Wir laufen also weiter. Die letzten 800 m gehen gefühlt schnell vorbei. Wir werden vom Zielsprecher angekündigt und durchlaufen das Ziel. Wir jubeln nicht, wir freuen uns im aller ersten Moment nicht. Sina ist erschöpft und ich sorge mich um Sina. Wir werden herzlich vom Moderator im Ziel begrüßt und erhalten unsere Medaillen. 6:45h haben wir für diesen Lauf benötigt. Er betont, dass es ein 45 km Marathon sei, den wir nun erfolgreich beendet haben. Ein weiterer Helfer reicht uns je eine Limonade. Ich bin erst gegenüber der Limonade skeptisch, aber genieße sie dann völlig. Dominik steht ebenfalls im Ziel und applaudiert uns zu. Er sei schon seit einer Stunde im Ziel. Wir lassen ein Foto von uns machen. Erst jetzt langsam setzt die Freude des erfolgreichen Laufes ein. Es kommt bei Sina mit Verzögerung wegen der Erschöpfung. Als ich sehe, dass sie sich langsam freut, kann ich mich auch freuen.
Wir setzen uns unter einen Baum, hinter dem Ziel und ruhen uns etwas aus und unterhalten uns. Dominik erzählt, dass kurz vor uns auch Matthias aus Minden einlief. Alex läuft gute 10 Minuten nach uns ein.
Ich mache Sina klar, dass sie wohl nun ungewollt eine Ultraläuferin geworden sei. 45 km mit 1800 Hm. Das ist für mich kein Marathon mehr. Irgendwo müsse man mal anfangen und eine Grenze zum Marathon ziehen und die sei für mich nun gekommen. 45 km ist für mich auf jeden Fall ein Ultra. Sie hält das erst für einen Witz von mir, aber Dominik und ich betonen beide, dass es mehr ein Ultra ist, als das es ein Marathon war.
Sie bedankt sich unter dem Baum und meint, dass sie ohne mich abgebrochen hätte. Der Umstand, dass sie nicht alleine war, hat ihr geholfen dies mental durchzustehen.
Und nun schließt sich der Kreis zum Anfang des Berichtes. Dies ist eben der Grund, warum es nicht Sinas zweiter erfolgreicher Marathon wurde. Es ist ihr erster erfolgreicher Ultra. Es dauert einige Sekunden, bis ich in ihrem Gesicht sehen kann, dass sie das emotional berührt. Ich bin mir in diesem Moment sicher, dass sie diesen Lauf erst richtig verarbeiten muss. Sie sich viel gequält, aber ich sehe ihr nun Freude. Ich würde es als qualvolle Freude bezeichnen, auch wenn es Paradox klingt. Herzlichen Glückwunsch zu deiner Leistung! Ich bin stolz auf dich.
PS: Es dauerte keinen Tag bis Sina von sich aus meinte, dass sie auf jeden Fall nochmal so einen Lauf machen möchte. 😉